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Hermann von Helmholtz: Auszüge aus einer Rede aus Anlass seiner Berufung als Prorektor an der Universität Heidelberg (1862)

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Die genannten Theile der Wissenschaft bringen es, der Regel nach, nicht bis zur Formulirung streng gültiger allgemeiner Gesetze, mit Ausnahme der Grammatik. Die Gesetze der Grammatik sind durch menschlichen Willen festgestellt, wenn sie auch nicht in bewusster Absicht und nach einem überdachten Plane gegeben wurden, vielmehr sich allmählich nach dem Bedürfnisse entwickelt haben. Sie treten daher demjenigen, welcher die Sprache erlernt, gegenüber als Gebote, d. h. Gesetze, die durch eine fremde Autorität festgestellt sind.

An die historischen und philologischen Wissenschaften schliessen sich Theologie und Jurisprudenz an, deren Vorbereitungsstudien und Hülfswissenschaften ja wesentlich dem Kreise jener Studien angehören. Die allgemeinen Gesetze, welche wir in beiden finden, sind ebenfalls Gebote; Gesetze, welche durch fremde Autorität für den Glauben und das Handeln in moralischer und juristischer Beziehung gegeben sind, nicht Gesetze, welche, wie die Naturgesetze, die Verallgemeinerung einer Fülle von Thatsachen enthalten. Aber wie bei der Anwendung eines Naturgesetzes auf einen gegebenen Fall, geschieht auch die Subsumption unter die grammatikalischen, juristischen, moralischen und dogmatischen Gebote in der Form des bewussten logischen Schliessens. Das Gebot bildet den Major eines solchen Schlusses; der Minor muss festsetzen, ob der zu beurtheilende Fall die Bedingungen an sich trägt, für welche das Gebot gegeben ist. Die Lösung dieser letzteren Aufgabe wird nun allerdings sowohl bei der grammatikalischen Analyse, welche den Sinn des auszusprechenden Satzes deutlich machen soll, wie bei der juristischen Beurtheilung der Glaubwürdigkeit des Thatbestandes, oder der Absichten der handelnden Personen, oder des Sinnes der von ihnen erlassenen Schriftstücke, meist wieder eine Sache der psychologischen Anschauung sein.

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Das entgegengesetzte Extrem zu den philologisch-historischen Wissenschaften bieten in Bezug auf die Art geistiger Arbeit die Naturwissenschaften dar. Nicht als ob in manchen Gebieten dieser Wissenschaften ein instinctives Gefühl für Analogien und ein gewisser künstlerischer Tact nicht auch eine Rolle zu spielen hätten. In den naturhistorischen Fächern ist im Gegentheil die Beurtheilung, welche Kennzeichen der Arten als wichtig für die Systematik, welche als unwichtig zu betrachten seien, welche Abtheilungen der Thier- und Pflanzenwelt natürlicher seien als andere, wesentlich nur einem solchen Tacte überlassen, der ohne genau definirbare Regel verfährt. Bezeichnend ist es auch, dass zu den vergleichend anatomischen Untersuchungen über die Analogie entsprechender Organe verschiedener Thiere und zu der analogen Lehre von der Metamorphose der Blätter im Pflanzenreich ein Künstler, nämlich Goethe, den Anstoss gegeben und dass durch ihn die wesentliche Richtung vorgezeichnet wurde, welche die vergleichende Anatomie seit jener Zeit genommen hat. Aber selbst in diesen Fächern, wo wir es noch mit den unverstandensten Wirkungen der Lebensvorgänge zu thun haben, ist es meist viel leichter, allgemeine umfassende Begriffe und Sätze aufzufinden und scharf auszusprechen, als da, wo wir unser Urtheil auf die Analyse von Seelenthätigkeiten gründen müssen. In vollem Maasse ausgeprägt zeigt sich der besondere wissenschaftliche Charakter der Naturwissenschaften erst in den experimentirenden und mathematisch ausgebildeten Fächern, am meisten in der reinen Mathematik.

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