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Die Schriftstellerin Monika Maron kommentiert die Popularität von Christo und Jeanne-Claudes verhülltem Reichstag (3. Juli 1995)

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Berlin hat plötzlich einen Marktplatz, sagt M. Es erinnert an ein Leichentuch, sagt C. Als wäre ein Ufo gelandet, sagt K. Ein gigantisches Spielzeug, sage ich. Jeder kann finden, was er sucht, und darf vergessen, was Zeitungen und Fernsehsender ihm als Rüstzeug für den bevorstehenden Kunstgenuß wochenlang eingebleut haben. Nur mein Freund, der Maler Nikolai Makarov, schweigt. Wahrscheinlich denkt er darüber nach, warum dem einen erlaubt wird, ein ganzes Parlamentsgebäude unter Stoff verschwinden zu lassen, während er seinen wunderbaren venezianischroten Makarov-Raum bisher nur im Kröchlendorffer Schloß einrichten darf, obwohl man in jedem Reihenhaus einen Platz dafür finden könnte, vorausgesetzt, es wohnen kunstsinnige Leute darin.

Christos symbolträchtige Aktion mußte, solange sie nur als Idee existierte, viel Sinngebung über sich ergehen lassen, was insofern sinnlos war, als ihr der eine Sinn so gut unterstellt werden konnte wie der andere. Ob der Reichstag durch die Verhüllung aufgewertet oder abgewertet würde, ob er auf die Art wenigstens vorübergehend endlich verschwinden oder gerade sichtbar werden würde, lag im Belieben des jeweiligen Wortführers. Daß der verhüllte Reichstag, wenn es ihn einmal gibt, selbst Sinn stiftet, wurde wohl am wenigsten vermutet.

In seiner seltsamen Verkleidung steht er da und erwartet die Einfälle seiner Betrachter, ein kolossales A, das den Rest des Alphabets herausfordert. Die einen singen, andere trommeln, noch andere jonglieren, manche küssen sich, die meisten fotografieren. Nachts kann man sich als Riesenschatten von den Scheinwerfern auf dem Portal abbilden lassen, und wer dabei einem anderen auf die Schultern klettert, steigt mühelos übers Dach.

Am Sonntag wurde im Radio gemeldet, in den frühen Morgenstunden hätten Scharen nächtlicher Besucher die Absperrung zur Westfassade durchbrochen, was die Ordnungskräfte das Schlimmste befürchten ließ. Dabei hatte diesen Sturm auf den Reichstag nur unbezähmbare Neugier entfacht. Sie wollten es anfassen, sagte einer der Ordnungshüter. Der Drang, es anzufassen, wie Kinder ein Tier oder etwas Unbekanntes betasten und befühlen wollen, überkommt offenbar jeden, mich auch.

Die gute Laune, die das Ding verbreitet, entspringt dem reinen Übermut. Jemand ist einer fixen Idee 24 Jahre treu geblieben, um uns am Ende diese schöne und glitzernde Sinnlosigkeit auf die Wiese zu stellen. Wenn das möglich ist, muß noch mehr möglich sein.

Es scheint, als hätte Berlin diese Botschaft des Leichtsinns sehnsüchtig erwartet. Die Stadt, der die verschonten Vorstadtbewohner der übrigen Republik längst gestrichene Subventionen neiden und ihr Larmoyanz vorwerfen, ohne zu ahnen, wie es sich jenseits der eigenen wohlgefügten Ordnung lebt, wird durch die Pflicht zur Vereinigung strapaziert wie keine andere. Nicht nur die PDS hat ihr Zentrum in Berlin, sondern auch die russische und die asiatische Mafia. Was aus dem Osten kommt, strandet hier, viel Gutes ist zur Zeit darunter nicht zu entdecken. Berlin ist dabei, den Rest seines ohnehin umstrittenen Charmes zu verlieren.

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