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Der Journalist Johannes Gross plädiert für eine urbanere Berliner Republik (1995)

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Mit ihrem Umzug nach Berlin kommt die Binnenisolation der deutschen Politik zu ihrem Ende. Zu den Funktionen einer großen Hauptstadt hat immer die gehört, nicht nur die Arena von Entscheidungen zu sein, sondern der erste Ort der öffentlichen Meinung eines Landes und die Börse, an der politische und gesellschaftliche Ideen gehandelt und bewertet werden und wo die Eliten des Landes sich messen. Wort und Begriff der Elite sind im Egalitätswahn der Deutschen nach dem Krieg in Verruf geraten: Gleichheit mehr als Freiheit hielten sie für die Quintessenz des Demokratischen und schleppten damit gutwillig-unbewußt ein Erbe der Volksgemeinschaft der Nazis weiter. Es ist auch richtig, daß sie über alte Eliten, die über alle Wechsel der politischen Form hinweg einen Dienst am Gemeinwohl als lohnenden Auftrag empfinden, nicht mehr verfügen; gleichwohl haben sie als unvermeidliches Ergebnis der gesellschaftlichen Selektion und der persönlichen Leistung die verschiedensten Eliten, die den Comment, die Konventionen und meist auch die Ergebnisse des gesellschaftlichen Handelns in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur bestimmen. Für die alte Bundesrepublik war die Kommunikationsschwäche unter den Eliten kennzeichnend, weil es eine Vielzahl von Zentren, aber eben keine Hauptstadt im Vollsinn des Wortes gegeben hat.

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Berlin wird nämlich nicht nur Hauptquartier der Bundespolitik sein, sondern auch Lebensmittelpunkt der sie gestaltenden Personen werden. Vordem hatte es wenig Reiz für Minister und Parlamentarier, sich und ihre Familien in der Hauptstadt auf einige Dauer niederzulassen und dafür angenehme Ortschaften, die leicht mehr bieten konnten, als Bonn vermochte, aufzugeben. Die großen Verbände, auf den Kontakt zur Bundesgewalt ständig angewiesen, werden ihre Umzüge uno actu bewerkstelligen, auch die umfassen, die sich nie die Mühe gemacht hatten, sich in Bonn niederzulassen, wie der DGB. Berlin wird herstellen, was die Bundespolitik bisher nicht kannte: volle politische Arbeitswochen und geselligen Verkehr des politischen Talents, wie er für alle wirklichen Hauptstädte der Welt charakteristisch ist.

Für die großen Veranstalter im Reich der öffentlichen Meinung hatte es zu Bonner Zeiten keinen Anreiz gegeben, ihre Pflanzstätte zu verlassen und in die Hauptstadt zu gehen. Von Hamburg oder München aus mochte man dem Bonner Treiben wohlwollend oder geringschätzig zusehen; ein patronisierendes Verhältnis zur politischen Anstrengung der in Bonn domizilierenden Verfassungsorgane war nicht unnatürlich; ein Sitz oder Erscheinungsort Bonn steigerte kein Prestige, sondern minderte es. Für Berlin wird gemach das Umgekehrte gelten – eine Publikation mit nationalem, gar europäischem Anspruch wird ihn weniger glaubwürdig realisieren können, wenn sie nicht in Berlin erscheint. Berlin wird für die öffentliche Meinung Deutschlands New York und Washington in einem sein. Das Hollywood Deutschlands, das die Stadt einmal gewesen ist, wird es nur spurenhaft werden; für die Unterhaltungsindustrie ergibt sich fürs erste keine überwältigende Motivation, sich auf Berlin zu konzentrieren.

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