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Der Journalist Johannes Gross plädiert für eine urbanere Berliner Republik (1995)

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Das zweite konstitutive Element des Bonner Stils war die Abwesenheit von Volk. Bonn ist eine mittelgroße Stadt, dominiert von Bundespersonal, der Universität mit ihren Professoren und Studenten; im übrigen die Einheimischen, die es überall gibt und die die Leistungen des täglichen Lebens erbringen. Es gibt so gut wie keine Arbeiterschaft, weil die großen Betriebe fehlen; eine Fahnenfabrik ist noch außerhalb bekannt und der Hersteller einer stattlichen Menge von Gummibärchen; auch kocht einer Eierlikör. Bonn kann Probleme der Wirtschaft oder des Arbeitsmarktes nicht als eigene wahrnehmen. [ . . . ]

Die Bundeshauptstadt Berlin wird einen politischen Stil hervorbringen, der von Grund auf anders ist. Mit dem Namen Berlin wird sich das Stichwort provinziell nicht verknüpfen lassen, das Bonn immer anhaftete – zu Unrecht, weil die in Bonn veranstaltete Politik von Adenauer an keineswegs provinziellen Zuschnitt hatte, sondern in Effizienz und Ergebnis neben der Politik, wie sie in großen Hauptstädten gemacht wurde, sehr wohl bestehen konnte. In München, Frankfurt und Hamburg wurde das Bonner Treiben als provinziell empfunden, doch nicht wahrgenommen, daß diese Städte selbst in Wahrheit provinziell waren, freilich nur in politischer Hinsicht. Dort war die politische Naivität zu Hause, die sich für tugendhaft überlegen hielt, dort standen die Stammtische, an denen kraftlos moralisiert wurde, nicht in Bonn. Dennoch: das mit zunehmender Behendigkeit sich wiederherstellende metropolitane Flair und der Charakter Berlins werden das Odium der Provinzialität nicht zulassen.

Zugunsten der neuen und alten Hauptstadt ist vorab die schlichte Wahrheit festzustellen, daß in den nächsten Dezennien Berlin nur gewinnen, jede andere deutsche Großstadt nur verlieren kann. Eine zweite schlichte Wahrheit ist allerdings gleich anzufügen: jede Hauptstadt wird von politischem Substanzverlust bedroht; und die europäische im besonderen. Solange der Kapitalmarkt weltweit und frei ist, wird es keine Regierung mehr geben, die in altgewohnter Weise noch Herrin einer nationalen Volkswirtschaft wäre, und die europäische Einigung hat unabweisbar den Verlust von Zuständigkeiten im Gefolge, die zunehmend auch alles Außerökonomische entleeren, selbst wenn noch auf lange Zeit der Einigungsprozeß formell Außen- und Sicherheitspolitik nicht umfaßt. [ . . . ]

Doch wird den Hauptstädten, Berlin darunter, ein beträchtliches Reservat des Politischen bleiben. Die Inneneinrichtung der Staaten wird in ihnen festgelegt, und auch die Deutschen werden, weil die anderen ihre Seele nicht zur Disposition stellen wollen, endlich von dem in Bonn nicht selten spürbaren Drang ablassen, möglichst viel vom Eigenen nach Europa zu delegieren, sich selber von Politik zu dispensieren (was sich auch darin gezeigt hat, daß wir das kleine Personalkaliber für die europäischen Instanzen bevorzugen und uns damit von bedeutenderem Einfluß freistellen). Berlin wird ebenso Hauptstadt werden, wie es Paris und London sind. Unsere Hauptstadt hat solide kulturelle Fundamente, aber nicht ausreichende gesellschaftliche und ökonomische und so gut wie keine ungebrochene Tradition, die fortzusetzen wäre. Die Stadt, die die Wiedervereinigung mühsamer verarbeitet als das Land im ganzen – die wechselseitige Abneigung der weniger subsidierten westlichen Kleinbürger und der noch nicht hinreichend subsidierten östlichen mag noch Jahrzehnte anhalten –, beginnt in der neuartigen Situation, nicht mehr zugleich Hauptstadt des größten Teilstaates zu sein. Die Existenz Preußens war vom alliierten Kontrollrat 1947 förmlich beendet worden, womit er aber bloß den Totenschein ausgestellt hatte, da die preußische Geschichte spätestens mit dem »Preußenschlag« des Reichskanzlers von Papen 1932 ihr Ende gefunden hatte [ . . . ]

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