GHDI logo

Der sozialdemokratische Vordenker Peter Glotz warnt vor einer falschen Normalisierung (1994)

Seite 4 von 5    Druckfassung    zurück zur Liste vorheriges Dokument      nächstes Dokument


(5) Typisch deutsch, von anderen Nationalbewegungen also nur teilweise nachvollziehbar, ist die Ostromantik, verbunden mit der Theorie vom Mitte-Auftrag der Deutschen. »Schwer der Gang, härter die Winde«, dichtet Syberberg – »und wer nach dem Osten ging, wußte, was ihn erwartete.« Die Westbindung wird abgetan, propagiert wird Äquidistanz: »Und wenn wir sie nicht wollten, nicht die Amerikaner und nicht die Russen?« Die Zukunft Deutschlands: »Eins sein in der Mitte.« In Anknüpfung an alte geopolitische Konzepte wird die große europäische Macht Deutschland auf den Osten und den Südosten orientiert: [ . . . ]

(6) Bleibt der älteste und gleichzeitig utopischste Diskurs, der, dem bei uns noch die härtesten Widerstände entgegengesetzt werden, auch von hartgesottenen Normalisierern: die Kritik des totalen Friedens, umgekehrt: die Enttabuisierung des Kriegs. »Der Krieg im alten Sinn«, schreibt Syberberg »war auch ein kulturelles Phänomen. Er entsprach dem naturgemäßen Sein der seßhaften Menschen.« Es gibt Tugenden, die im Krieg besonders leuchten.
[ . . . ]

3.

Die Rede von der »Identität«, heißt das, ist gefährlich. Die Deutschen stecken nach der Vereinigung mitten im Prozeß einer nationalen Identitätskonstruktion, aber im Sinn einer (Hitler aussparenden) Rückwärtsrevidierung. Wo das enden dürfte, ist mit Händen zu greifen: Beim trotzigen Ethnozentrismus der Maxime: Deutschland zuerst. Beim Rückgriff auf die sozialkonservative Binnenmoral eines fehlkonstruierten Nationalstaates. Bei Normalisierung im Sinn von robuster Reduktion von Komplexität, kurz bei Tonio Krögers Sehnsucht nach der blonden Inge, nach den »Wonnen der Gewöhnlichkeit«. Am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts eine Rückkehr an seinen Anfang, eine lakonische Kreiselbewegung der Geschichte über fünfzig Millionen Toten – unprätentiös ausgedrückt wäre das entweder zum Speien oder zum Fürchten.

Natürlich heißt das nicht, daß der Terminus »Identität« vergiftet sein muß. Das insinuiert der Satz von Diedrich Diederichsen: »Wer ohne primäre Not Identität verlangt, stiftet oder verehrt, ist ein Faschist.« Dieser Gedanke transportiert zwar die richtige Erkenntnis, daß der Überlebenskampf bedrängter »Nationen«, seien es Völker, Rassen, Jugendkulturen oder sexuelle und religiöse Minderheiten, legitimer ist als die Separation dominierender Kulturen zwecks Entfaltung und Durchsetzung ihrer Eigenheiten. Mit der empörten Replik eines aufgebrachten Normalisierers – ihr wollt der Gay Community zugestehen, was ihr den Deutschen verweigern wollt – könnte man noch fertig werden. Aber es ist nun einmal unvermeidbar, daß Gruppen (also »nations«, »communities«, »Bewegungen«) Subjektivitäten, soziale Konstruktionen, Formen der Kohäsion entwickeln. Nicht die »Nation« und ihr »Patriotismus« ist das Problem, sondern das Zuschleifen des Patriotismus zu einer Waffe.

Deswegen wäre es nicht deutsch-national, wenn sich die Deutschen wie die Franzosen auf einen Kanon, auf ein Kern-Curriculum einigten, falls Heine, Börne, Glassbrenner und Tucholsky genauso dazugehörten wie die Weimarer Klassik. Deswegen wäre es kein Kulturchauvinismus, wenn sich die deutsche und französische Filmindustrie Abspielstätten für ihre Produkte erhielte; falls dieser Protektionismus nicht den elitären Hochmut gegen Pop, Massenkultur und amerikanische Kunst transportierte. Deswegen ist die sorgsame Förderung der rätoromanischen Sprache für einige Tausend Schweizer Bürger keine nationalistische Marotte, sondern eine Rettung von Vielfalt.

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite