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Stimmen aus der Provinz (4. August 1990)

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Manche Leipziger schimpfen, daß sie nun auch in Lokalen, die früher für sie erschwinglich waren, „westdeutsche Preise“ zahlen sollen. Die Stasi- und Beutelschneiderhotels von ehedem mieden sie ohnehin. Sie wurden nur von denjenigen aufgesucht, die in der Zweiklassengesellschaft der DDR Honeckers über Westgeld verfügten. Droht nun eine neue Zweiklassengesellschaft? „Es wird sich einpendeln“, sagen die Gäste der westdeutschen Kaffeerösterei Eduscho, die im Hause der „Pfeffermühle“ in der Nähe der Thomaskirche eine Ausstellung von Grafiken zur Kultur- und Alltagsgeschichte des Kaffees besuchen. Die Kabarettisten spielen bei diesem Kaffeeklatsch mit: „Das gleiche Geld? Sie meinen die gleiche Währung. Das gleiche Geld haben wir noch lange nicht.“ Johann Sebastian Bach, der ebenso ein großer Unterhaltungs- und Kaffeehausmusiker war, nicht nur der feierliche Kantor, hätte seine Freude an der jungen Gruppe gehabt, welche die Kaffeekantate des Meisters verrockte und verjazzte.

Viele westdeutsche Wirtschaftler sind unsicher. In Halle habe eine Bank aus dem Westen zehn Kredite zur Existenzgründung gegeben, acht seien schon bankrott. Der das „Volkseigentum“ ablösende Chef der Treuhandstelle sagte: „Im Augenblick zahlt kein Unternehmen für Lieferungen und praktisch niemand seine Rechnungen.“ Die längsten Schlangen stehen vor den Geldinstituten, die beinahe so rar sind wie Tankstellen. Sie wollen klare Rahmenbedingungen, sichere Kredite, einklagbares Recht. Noch wissen sie oft nicht, wem etwas wirklich gehört und wo sie investieren wollen oder sollen.

Dieser „westliche“ Ärger stimmt mit dem von Sachsen und Thüringern überein: „Unsere Regierung kümmert sich viel zu sehr um die Hauptstadt Berlin, die Hymne, die Fahne, das Wahlgesetz.“ Rechtsunsicherheit betrübt auch Privatleute. In Markkleeberg leben ein Leipziger Musiker und seine Frau, eine Töpferin, – „wir arbeiten Ton in Ton“ – zwar im Haus ihres Vaters. Jener aber war als „Kapitalist“ enteignet worden und die vergehende SED-Herrschaft hat wie an vielen Orten auch hier das Haus nach der Wende noch schnell an einen anderen verkauft. Jetzt müssen sie ihr Eigentum mit einem Rechtsanwalt erstreiten. Zum Glück waren sie nicht schon von den Sowjets enteignet worden. Denn merkwürdigerweise soll das Besatzungsunrecht dieser Enteignung nach der deutschen Einigung Recht werden. Ihre Tochter studiert im Westen und ist von der internationalen Atmosphäre eines Studentenhauses in Rodenkirchen bei Köln begeistert. Dafür haben sie eine Studentin aus Bonn zu Gast. Die Vereinigung der Deutschen findet in diesen Tagen nicht nur in den Papierbergen der Unterhändler der beiden Staaten statt. Sie hat nichts mit Größenwahn oder einem „Vierten Reich“ zu tun.

Wer kurz vor der Wende, wenig später im Winterwahlkampf zur ersten freien Volkskammerwahl und jetzt nach dem Einzug der D-Mark durch Thüringen und Sachsen reist, dem fallen Veränderungen sofort ins Auge: Die wichtigste ist ein sichtbarer Sieg der Freiheit. Bei Herleshausen montieren sie die Peitschenlampen der Wächter ab, die aus der DDR ein einziges großes Lager gemacht hatten und nun im Westen möglichst Beamte werden wollen. Keiner kontrolliert mehr.

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