GHDI logo

Stimmen aus der Provinz (4. August 1990)

Seite 2 von 4    Druckfassung    zurück zur Liste vorheriges Dokument      nächstes Dokument


Vor den Autobahnrastplätzen zwischen Eisenach und Weimar steht handgeschrieben: „Hier Thüringer Wurst.“ Ein junges Mädchen hat den häuslichen Grill mitgebracht. Die Marktwirtschaft beginnt im Kleinen. Auf dem Markt im nordthüringschen Mühlhausen steht ein dicker Mann aus dem hessischen Eschwege, wettert gegen die angeblich faulen „DDRler“: „Warum hast Du schon wieder kein Wasser in den Kessel getan?“. Im Schweiße seines Angesichts verkauft er (Thüringische) Rostbratwurst für zwei Mark. Gegenüber am HO-Hotel – auch das wäre eben noch nicht denkbar gewesen – bietet ein junges Mädchen dieselben Würste für 1,60 D-Mark feil. Aber – noch – belebt Konkurrenz nicht das Geschäft. Die meisten kaufen – noch – beim Westler. Die Thüringer und Sachsen wie fast alle anderen in der DDR sind zwar unsicher wegen der Preissteigerungen und Entlassungen, aber noch sind sie gegen diese PDS-Kampagne gefeit. Sie wissen, wer den Ruin zu verantworten hat. Manche verhalten sich so, daß Ludwig Erhard seine Freude an ihnen hätte: Auf dem Markt in Mühlhausen – soviel Märkte hat es vor wenigen Monaten nicht in der DDR gegeben – steht eine Frau vor den vollen Brot- und Brötchenkörben, die ein hessischer Bäcker geliefert hat. Sie fragt, wieviel diese Brötchen und wieviel jene kosten. Die einen 20 Pfennig, die anderen 40 Pfennig. Sie wählt die 20-Pfennig-Brötchen. Nach dem 1. Juli hatten manche mit Inflationspreisen begonnen. Nun sind sie zwar noch nicht auf das alte vom Staat heruntersubventionierte DDR-Niveau gefallen, aber immerhin schon auf das westdeutsche und noch weiter auf die den geringeren Einkommen in Thüringen oder Sachsen angemessene Höhe. Den Nordhäuser echten „Goldkorn“ gibt es nun „sogar“ für den krummen Preis von 14,68 D-Mark statt für bisher 24 DDR-Mark.

Ulla Heise, die in Leipzig mit dafür gesorgt hat, daß bei der nächsten Demonstration jeder noch jemanden mitbrachte, sagt: „Ich habe seit dem 2. Juli kein Brot gekauft. Solange es dreimal so teuer wie im Westen ist, lebe ich von Knäckebrot. Das ist unterdessen bei uns so billig wie bei Euch.“ Bei allem Zorn über Preistreibereien und die Ernüchterungen des Alltags nach der Begeisterung haben sie und ihre Freunde nie vergessen, was sie erreicht haben. Leipziger klatschen Beifall, als ein Westdeutscher auf der Bühne des Kabaretts „Pfeffermühle“ ihnen dafür dankt, daß er nun bei Herleshausen von Hessen nach Thüringen so „unkontrolliert“ gereist ist, als wäre er von Hessen nach Bayern gefahren. Die Revolutionäre von gestern wollen nicht locker lassen. Ulla Heise und ihre Freunde bringen im Leipziger Forum-Verlag ein „Nachgeschaut“ heraus, eine Dokumentation zur Stasi-Allgegenwart. Sie wissen, wo der Stasi einst saß, vom Kaffeehaus bis zur Universität. Da es in Leipzig in diesen heißen Hundstagen aus manchen Versorgungsschächten qualmt, heißt es: Da sitzt noch die Stasi.

Auch in Leipzig sind die Westdeutschen allgegenwärtig. Vor dem Hotel Astoria steht ein protziger schwarzer Wagen. Er wirbt mit dem Aufkleber „IBV“ für „Karrieremachen“ und lockt für einen Sonntag zwischen 14 und 17 Uhr ins Hotel. Die Waschzettel verraten Einzelheiten nicht. „Der Erfolg ermöglicht einen höheren Lebensstandard durch besseres Einkommen – und genau hier möchten wir Ihnen ein Angebot machen. Zu Beginn können Sie zunächst bei freier Zeiteinteilung nebenberuflich für uns tätig sei. Sie können dabei in der Woche bei sechs Stunden Arbeitszeit durchaus 300 D-Mark zusätzliches Einkommen erzielen.“ Der Texter gibt zu, das mache kritische Menschen zu Recht skeptisch. „Aber gerade diese Menschen stellen wir uns als zukünftige Mitarbeiter vor. Engagiert, kritisch, selbstbewußt.“ Es gehe nicht um die „schnelle Mark“. Worum es geht, wird nicht gesagt. Wir fragen im Westen nach.

„I“ stehe für Immobilien, „B“ für Bausparen, „V“ für Versicherungen. Man suche also Vertreter und sei mit dem Zuspruch zufrieden. Ähnlich goldgräberisch klingt der Text auf leuchtend rotem Grund: „Mir geht’s gut.“ Dazu heißt es, ein erfolgreiches Leben habe „gewisse Kennzeichen: Zufriedenheit, erfüllte Wünsche und immer noch Geld!“ Hier wird von anderen eine ebenfalls nicht bezeichnete „Nebentätigkeit für 20 bis 35jährige Berufstätige“ angepriesen, mit der man „Außergewöhnliches“ erreichen könne. Eine Nachfrage offenbart als Werber die „FMGH“ eine „Gesellschaft zur Förderung mittelfristiger Geldanlage.“ Die Leipziger Freundin fragt, ob so die Marktwirtschaft sei, „mit Neppern, Schleppern, Bauernfängern?“

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite