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Die Vereinigungskrise (31. Dezember 1992)

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Man kann gut verstehen, dass die Erwartungen beider Teile des Landes völlig verschieden sind. Die Westdeutschen hätten ganz gut auf die Ostdeutschen verzichten können: Warum also für sie zahlen? Immerhin gehen jährlich 150 bis 180 Milliarden hinüber. Die Steuern steigen, die Zinsen auch, verschiedene Projekte müssen zurückstecken. Fühlbar ist das schon – wenn auch in Massen (und unterschiedlich je nach Einkommenslage). Folglich heißt es sogleich: Wir haben unseren Wohlstand schwer erarbeitet, die wollen ihn geschenkt haben. Und neuerdings gibt es ja sogar Fälle, wo Firmen ihre Produktionsstätten im Westen schließen und andere im Osten aufmachen, weil es dort billiger ist. Kein Wunder, dass Unmut entsteht. Und weiter: Warum sollen die Westdeutschen sich oder ihre Ordnung in irgendeiner Hinsicht der Ostdeutschen wegen ändern? Schließlich hat sich das eigene System doch bewährt, und das andere ist zusammengebrochen. So versteht es sich doch wohl von selbst, dass die Ostdeutschen alles von den Westdeutschen übernehmen, auch die Parteien (samt deren Vorsitzenden), auch die Demokratie, bis in die Einzelheiten hinein.

Umgekehrt vom Osten aus: Man erleidet vielerlei, was man als ungerecht empfinden muss, Verlust der Arbeit, der Wohnung und anderes. Westliche Kommissionen, die die Tauglichkeit für Ämter überprüfen, die Versetzung bewährter Frauen und Männer in den Lehrlingsstand, die zum Teil unter entwürdigenden Umständen und ungerechtfertigterweise herbeigeführten Entlassungen (oder Nicht-Wiedereinstellungen) zugunsten westlicher Nachwuchskräfte. Vielerlei Betrügereien waren und sind an der Tagesordnung, von Takt- und Verständnislosigkeiten ganz zu schweigen. Als Beamte und Angestellte sind freiwillig vor allem solche der dritten und vierten Kategorie, zumeist noch in höhere Stellen befördert, herübergekommen, den andern muss man hohe Zulagen zahlen, ohnehin bekommen sie mehr Gehalt als die nach Osttarif bezahlten dortigen Kollegen. Auch dass die DDR-Wirtschaft derartig darniederlag, ist schwer zu begreifen: Zumal hier jedenfalls ein rudimentärer DDR-Stolz betroffen ist: Denn für diese Wirtschaft hatte man ja, direkt oder indirekt, gearbeitet. Sie war, wenn auch unzulänglich genug, das Lebenswerk der meisten im Lande.

Was alles an Verbesserungen schon geschehen ist – und das ist ja wahrhaftig nicht wenig –, schlägt im Bewusstsein des Gros offenbar nicht so leicht durch. Das eine wird schon für selbstverständlich genommen, am andern wird gelitten. Dass etwas schon klappt, wird wenig vermerkt, was schiefläuft, so gerne erzählt, dass die Fälle sich gleichsam durch das Herumerzählen multiplizieren. Und es wird sehr viel auch vorwurfsvoll geschwiegen. Allzu oft schleicht sich sogar schon die Vorstellung ein, man habe nur das eine ungerechte, willkürliche Regime gegen das andere getauscht (obwohl die Zahl derer, die die Vereinigung mit der Bundesrepublik für richtig und gut halten, nach wie vor klar überwiegt).

Warum ist das alles so? Meine Vermutung ist: Weil erstens die Negativa für viele recht beträchtlich sind, die Hoffnungen aber abgestumpft (wobei natürlich auch verschiedene Versprechungen von westlicher Seite, die nicht eingehalten werden können, eine Rolle spielen). Zweitens werden diese Negativa als Ungleichheit gegenüber den Westdeutschen besonders stark empfunden. Drittens bringen die Prozesse, die zur Zeit unter den Deutschen ablaufen, die fortlebende DDR-Identität stark zur Geltung.

Hier liegt der wesentliche Unterschied zwischen Ostdeutschland und den übrigen Ostblockländern. Dass es in Ostdeutschland wirtschaftlich ungleich besser geht, ist zwar zuzugeben, aber es zählt nicht wirklich, weil man eher mehr als zuvor ganz auf Westdeutschland fixiert ist; weil man die Unterlegenheit nicht mehr länger ertragen will. Uns geht es besser, weil wir keinen großen Bruder haben, sagte neulich ein Tscheche. Er könnte damit etwas Richtiges treffen. Um es mit dem englischen Germanisten T. J. Reed zu sagen: Nothing, it seems, divides people like unification.

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