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Unterschiede zwischen Ost und West (12. November 1990)

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Wer in der DDR Protestant oder Katholik geblieben ist, hat vielfachem Druck des Staates und der Staatspartei widerstanden, ihn vom Glauben abzubringen. Aber nun haben es die Bischöfe – die evangelischen wie die katholischen – übernommen, die Zahl der Ost-Christen weiter zu vermindern.

Sie ließen sich im Einigungsvertrag die Einführung der Kirchensteuer garantieren und lösten damit eine Welle von Austritten aus. Viele, die jahrzehntelang freiwillig etliche DDR-Mark gezahlt haben, sind nicht bereit, sich nun zwangsweise mehr D-Mark vom Lohn oder Gehalt abziehen zu lassen.

Auch in anderer Hinsicht werden die ostdeutschen Bischöfe über kurz oder lang dem schlechten Beispiel ihrer westdeutschen Amtsbrüder folgen: Sie wollen durchsetzen, daß an den staatlichen Schulen der Religionsunterricht eingeführt wird. Diese Mission mit Staatshilfe und auf Staatskosten soll Kinder und Jugendliche für den Glauben erwärmen, der sie als Erwachsene vermutlich kaltlassen würde. Das Vorhaben wird nicht am Widerstand der Bevölkerung scheitern, wie die Emnid-Umfrage zeigt. Auf die Frage, was sie von der Einführung des Religionsunterrichts halten, war die häufigste Antwort: „Ist mir egal“ (42 Prozent; dafür: 29 Prozent; dagegen: 26 Prozent).

Nahezu jeder Vergleich mit ihren Landsleuten im Westen müßte eigentlich die ehemaligen DDR-Bürger mit Neid und Ungeduld erfüllen. Aber die SPIEGEL-Untersuchung liefert Belege nicht für, sondern gegen diese Vermutung. Ostdeutschland ist kein Tal des Jammerns.

Am deutlichsten machte dies das Leipziger Institut. Seine Interviewer baten diejenigen, die Verwandte oder Bekannte im Westen haben, deren Lebensstandard mit dem eigenen zu vergleichen. Weitaus die meisten erklärten ihren eigenen Standard für niedriger.

Als diesen Befragten die Zusatzfrage gestellt wurde, ob sie „dieser Unterschied belastet“, fielen die Antworten eindeutig aus. 73 von 100 beschwert der eigene Rückstand nicht.

Die Frage, ob sie mit ihrer Wohnung zufrieden sind, bejahten 79 Prozent der West-Deutschen, aber auch 72 Prozent der Ost-Deutschen. Dabei ist es für niemanden ein Geheimnis, daß die Wohnungen im Westen größer und besser ausgestattet sind, daß sie außerdem von den privaten Vermietern besser instand gehalten werden als die Wohnungen in der Ex-DDR von den dortigen Kommunen.

Wer die ostdeutsche Zufriedenheit mit Wenigem verstehen will, muß sich in Erinnerung rufen, wie grau und hoffnungslos die Gegenwart und die Zukunft der DDR-Bevölkerung noch Mitte vorigen Jahres schienen, bevor das Volk auf die Straße ging und die Mauer brach. Zwei Spätfolgen des langen tristen Lebens in der DDR treten in den Ergebnissen der Untersuchung deutlich zutage.

Die eine: In hohem Maße fühlen sich die Ost-Deutschen ihren Landsleuten im Westen unterlegen, was die Eigenschaften betrifft, die sie in ihrem neuen Leben brauchen.

Die andere: Es gibt eine starke, geradezu explosive Stimmung dagegen, daß viele SED-Bonzen dabei sind, sich als Herren der Zukunft zu etablieren.

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