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Heiner Müller über den Ausverkauf der DDR (30. Juli 1990)

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SPIEGEL: Gab es denn eine DDR-Kultur in Ihren Augen?

MÜLLER: Das weiß ich nicht. In der Literatur gab es sicher Dinge, die relativ spezifisch waren für das, was in der DDR entstanden ist. Aber trotzdem war es deutsch geschrieben, und letztlich war es ein Maßstab, ob es gutes Deutsch ist oder nicht. Insofern gab es nie zwei Literaturen. Es gab auf beiden Seiten natürlich eine Trivialliteratur. Die hier war staatlich und die dort kommerziell, das war der Unterschied.

SPIEGEL: Was sind für Sie Errungenschaften der DDR, die es zu bewahren gilt? Und wie soll man sie retten?

MÜLLER: Wenn ich das wüßte! Zum Beispiel: Ich komm’ nach Hause nach fünf Tagen, ich war in Frankreich oder irgendwo. In meinem Haus gibt’s eine Buchhandlung. In diesen fünf Tagen haben sich die Auslagen bis zur Unkenntlichkeit verändert. Da waren nur noch DuMont-Reiseführer, Kochbücher in den Regalen. Muß ja nicht DDR sein, aber viele Verlage haben sehr viel Internationales von hoher Qualität herausgebracht. Das geht alles nicht mehr, weil es in der DDR gedruckt ist.

SPIEGEL: Weil Ihre Leute es nicht mehr kaufen wollen.

MÜLLER: Natürlich, klar. Mein Widerstand geht gegen die schnelle Anpassung.

SPIEGEL: Ist der Widerstand nicht auch ein bißchen die Trotzreaktion beleidigter Intellektueller? [ . . . ]

MÜLLER: [ . . . ] ich bin nicht beleidigt.

SPIEGEL: Aber viele Ihrer künstlerischen Artgenossen, weil nämlich die Revolution an ihnen vorbeigelaufen ist.

MÜLLER: Wohin? Ich war da von Anfang an ziemlich skeptisch. Sobald das Wort „Volk“ fällt, werde ich doch mißtrauisch. Es ist nicht mein Volk. Ich hab’ sehr gut verstanden, gerade im Herbst vorigen Jahres, warum der Brecht immer darauf bestand, „Bevölkerung“ zu sagen statt „Volk“. Natürlich ist so eine Losung „Wir sind eine Bevölkerung“ unbrauchbar, die zündet überhaupt nicht.

SPIEGEL: Es gab auch die Losung: „Wir sind ein blödes Volk.“

MÜLLER: Ja, die fand ich gut. Noch besser war: „Ich bin Volker.“ Da stand auf einem Transparent „Wir sind das Volk“, und daneben hat einer geschrieben „Ich bin Volker“. Den Mann, der das geschrieben hat, den brauchen wir in der nächsten Zeit. Es geht um die Stärkung dieser Kräfte.

Aber zurück zur Revolution. Man darf das, glaube ich, nicht so pathetisch nehmen, so heroisieren. Was da wirklich passiert ist, war ein Staatsbankrott. Also, die Kreditketten reißen an den schwächsten Stellen, genau wie die anderen Ketten.

SPIEGEL: Man darf es vielleicht auch nicht so unpathetisch sehen. Da ist ein wirkliches Zwing Uri geschleift worden. Das kann man doch nicht nur lächerlich machen mit „Ich bin Volker“.

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