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Heiner Müller über den Ausverkauf der DDR (30. Juli 1990)

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MÜLLER: Es ist für mich eine wirkliche Arbeit, jetzt darüber nachzudenken. Ich bin aufgewachsen in einer Diktatur, hineingewachsen in die nächste Diktatur, die zunächst eine Gegendiktatur war, mit der ich mich identifizieren konnte. Ich konnte mich, ganz grob gesagt, auch mit Stalin identifizieren; Stalin war der, der Hitler gekillt hat. Von da an war das ein Problem. Ich bin aufgewachsen in dieser ersten Diktatur in einer ziemlich schizophrenen Situation: Draußen „Heil Hitler!“, und zu Hause war alles klar. Diese Spannung entstand auf andere Weise in der nächsten Diktatur genauso. Das ist das Merkwürdige, daß ich gelernt habe, damit umzugehen. Ich glaube, das hat mir als Schriftsteller sehr viel Erfahrung gegeben und sehr viel widersprüchliches Material. Gerade diese schwarze Folie der Diktatur und dieses gebrochene oder ambivalente Verhältnis zum Staat war für mich ein Movens, also eine Inspiration zum Schreiben.

Ich habe nie einen Zweifel daran gehabt, daß diese DDR nicht existiert außer in Abhängigkeit von der Sowjetunion und daß die Bevölkerung hier in einem Status von Kolonisierten lebt.

SPIEGEL: Das fanden Sie aber aus bestimmten historischen Gründen richtig?

MÜLLER: Das kann man so nicht sagen, weil ich Schriftsteller bin. Ich bin kein Politiker. Ich konnte damit was anfangen. Kunst hat doch nichts mit Moral zu tun.

SPIEGEL: Nein, aber es gibt doch auch den Menschen Heiner Müller.

MÜLLER: Nur bedingt. Je länger man schreibt, desto mehr verbraucht man den Menschen. Für mich ist ein Punkt im Zusammenhang mit mir: Was hier nützlich war zum Schreiben, ganz ohne Moral und Politik, war, daß man auch in einer Dritte-Welt-Situation lebte. Der Sozialismus in der DDR in seiner stalinistischen Ausprägung bedeutete weiter nichts als die Kolonialisierung der eigenen Bevölkerung. Das sieht man heute noch sofort in jeder U-Bahn: Der DDR-Bürger hat einen verdeckten Blick. Man erkennt ihn sofort als den mit dem verdeckten Blick. Auch schon die Kinder. Das ist der Blick der Kolonisierten.

SPIEGEL: Sie meinen, die Unterdrückungssituation hat Ihnen geholfen, die hat Dinge geklärt?

MÜLLER: Es war ein größerer Erfahrungsdruck, als ich ihn in Hamburg hätte haben können.

SPIEGEL: Das Müller-Zitat, das wir Ihnen zu Beginn vorgehalten haben, hat noch einen zweiten Halbsatz: Gegen die Unterwerfung „wollen wir uns wehren“. Wie wollen Sie sich denn wehren in einer Situation, da die deutsche Einheit längst gelaufen ist?

MÜLLER: Ich sag’ ein Beispiel: Im Museum Ludwig in Köln hat der Peter Ludwig als der große DDR-Mäzen gerade einen Streit mit seiner Museumsleitung, die beschlossen hat: Diese DDR-Kunst, die ist in einem Unrechtssystem entstanden, in Unfreiheit gemalt worden. Deswegen muß sie in den Keller und darf nicht ausgestellt werden. Das ist ein Trend auch hier. Ich habe gerade vor ein paar Tagen gehört: DDR-Kunst in den DDR-Museen kommt nicht mehr vor, die kommt in den Keller.

SPIEGEL: Also Widerstand gegen dieses Unterpflügen?

MÜLLER: Gegen die simple Gleichsetzung einer Kultur oder Kunst oder Literatur mit dem System, in dem sie entstanden ist.

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