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Charles Krauthammer über internationale Ängste im Hinblick auf die deutsche Wiedervereinigung (26. März 1990)

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Solch ein Deutschland ist sein eigener Staatenbund. Auch ohne böswillige Absichten, Feindseligkeiten oder „Romantik“ seitens der Staatsführung, wird sich das neue Deutschland zwangsläufig entsprechend seiner neuen Machtposition verhalten – unabhängig, mit einem Selbstbewusstsein und einer Berücksichtigung von Interessen in entfernten Gebieten, wie es auch die anderen Großmächte, insbesondere die USA und die Sowjetunion, auszeichnet.

Die wahre Gefahr, die von einem wiedervereinigten Deutschland ausgeht, liegt nicht in der Auferstehung eines neuen Bismarck oder Hitler. Vielmehr liegt sie in der Geburt des neuen Giganten in der Mitte des Kontinents. Dieser wird das große europäische Vereinigungsprojekt aufhalten und stattdessen, wie The Economist formuliert, eine „revidierte Fassung des früheren, zerstörerischen Gleichgewichts der Mächte“ schaffen – eine Rekapitulation des internationalen Systems des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, das so katastrophal endete.

Wir können bereits jetzt sehen, wie sich das neue Kräfteverhältnis formiert. Es ist uns erschreckend vertraut. Westeuropäische Mächte suchen die Vorkriegsverbindungen zu den früheren sowjetischen Satellitenstaaten in Osteuropa wiederherzustellen, und zwar nicht nur, um wirtschaftliche Chancen zu nutzen, sondern bewusst, um eine deutsche Vorherrschaft in der Region zu verhindern. Polen ist ein gutes Beispiel. England und Frankreich unterstützen mit Nachdruck Polens Forderung nach einer deutschen Anerkennung der aktuellen polnischen Grenzen. Kanzler Helmut Kohl äußert Bedenken und weist Polens Forderung nach Teilnahme an den anstehenden „Zwei-plus-Vier“ Beratungen geradeheraus zurück. So bittet Polen die Sowjetunion um Hilfe und spielt die Sowjetkarte – sowjetische Truppen bleiben in Polen, an der Grenze zu Deutschland stationiert – als Warnung an Deutschland, mehr Entgegenkommen zu zeigen. Dieses Verhaltensmuster ist nicht neu.

Während die Europäer beginnen, neue Verbündete zu finden, um ein Gegengewicht zu Deutschland zu schaffen und es in Schach zu halten, sieht sich jedes Land in eine Art reaktiven Nationalismus zurückgedrängt. Ein westdeutscher Diplomat beschwerte sich gegenüber The Washington Post: „[Margaret Thatcher] verfolgt eine sehr enge Art des Nationalismus des 19. Jahrhunderts. Wenn ein Land sich so verhält, besteht die Gefahr, dass andere es ihm gleichtun müssen.“ Thatcher würde vielleicht kontern, dass sie diesen Prozess ja nicht begonnen habe. Wie dem auch sei. Egal wer als Sündenbock herhält, das Ergebnis bleibt gleich: alle Bestrebungen in Richtung Integration, Föderalisierung und Souveränitätsverwässerung sind gestoppt. Europa hat die Souveränitätsidee erfunden, die Konsequenzen durchlitten und war kurz davor aufzuzeigen, wie sie überwunden werden kann. Nun ist Europa auf dem Weg zurück in die andere Richtung. Dieser Weg ist für einen Kontinent mit neunundzwanzig Staaten, in denen fünfundvierzig Sprachen gesprochen werden, nicht nur ein Anachronismus, sondern die beste Voraussetzung für Instabilität.

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