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Theodor Fontane über den sich wandelnden Geschmack des Theaterpublikums (1878-1889)

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III. An Friedrich Stephany (10. Oktober 1889)


Berlin, 10. Oktober 1889

[ . . . ] Und nun Gerhart Hauptmann, der neue Räuberhauptmann, neben dem Ibsen bloß ein Cadet. [ . . . ] Es steckt nur in all diesen neuen Stücken was drin, was die alten nicht haben und sie verhältnismäßig dürftig und oft tot erscheinen läßt. Der Realismus wird ganz falsch aufgefaßt, wenn man von ihm annimmt, er sei mit der Häßlichkeit ein für allemal vermählt; er wird erst ganz echt sein, wenn er sich umgekehrt mit der Schönheit vermählt und das nebenherlaufende Häßliche, das nun mal zum Leben gehört, verklärt hat. [ . . . ]



IV. An seinen Sohn Theodor Fontane (19. Oktober 1889)


Berlin, 19. Oktober 1889.

Mein lieber alter Theo.

Seit dem Sommer habe ich nicht geschrieben, und überblicke ich die zwischenliegende Zeit, so liegt das »Urland deutscher Siege« (so ungefähr war Albedylls Ausdruck) vor mir. Divisionen hüben und drüben, Zeltlager, Verpflegungskolonnen und Bäckereien, und dazwischen jagt, hoch zu Roß, ein Schimmelreiter, der, noch umleuchtet von der Freude, seinen Kaiser gesehen zu haben, in eine halbrevolutionäre Bäckerbande einbricht und den Gehorsam wiederherstellt und mit dem Gehorsam das, woran alles hängt: das Brot. Knesebeck, der spätere Feldmarschall, machte dadurch Karriere, daß er in der Rheinkampagne den Mut gehabt hatte, einen Graben, über den die Artillerie nicht weg konnte, mit einem Brottransport, den er führte, zu füllen; vielleicht erwächst auch Dir aus dem Brot das Glück, um so mehr, als Du's nicht opfertest (was immer mißlich bleibt), sondern schufst. Im übrigen hat mir der ganze Vorfall, der viele seinesgleichen hat, wieder gezeigt, wie kipplich alles steht und wie sehr wir des Glückes und der Siege bedürfen, um über die Fährlichkeiten, die von allen Seiten, und zwar im eigenen Lager drohen, leidlich hinwegzukommen. Alles ist verdemokratisiert, verwelft, verkatholisiert oder ganz allgemein vergrätzt und verärgert und gehorcht nur, weil jeder im Geiste die Kanonen aufgefahren sieht, die Kreis schließen und hineinkartätschen. Aber eines Tages fehlen auch die, mit denen man Kreis schließen kann, und dann ist es vorbei. Man braucht kein Schwarzseher zu sein, um solche Zeiten vor sich aufsteigen zu sehen, und ich habe nur den einen Trost in der Seele: es kommt immer ganz anders. Wie Louis Schneider mal eine Zusammenstellung gemacht hat, um mit Hilfe von Zeitungsausschnitten aus der Zeit von 1780 bis 1870 zu beweisen, »daß in jedem Jahre gesagt worden sei, so schlecht war das Theater noch nie«, so könnte man auch Zitate zusammenstellen, um zu beweisen, daß es in jedem Jahre geheißen hat: »im nächsten geht die Welt unter, oder doch beinahe«. Irgendeine Sünd- oder Sintflut ist immer vor der Tür, aber dabei leben die Menschen vergnüglich weiter und backen Hochzeitskuchen.

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