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Bericht des Reichsjustizministeriums über das Auftreten und die Bekämpfung „jugendlicher Cliquen und Banden” (Anfang 1944)

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Zu a): Politisch-oppositionelle Cliquen

Diese Vereinigungen leiten zum Teil ihren Ursprung von der sog. bündischen Jugend ab. Es ist deshalb erforderlich, einen kurzen Blick auf die früheren Jugendbewegungen zurückzuwerfen. Um die Jahrhundertwende entstand eine Jugendbewegung, die aus der Sehnsucht entsprang, sich gegen die bürgerliche Verflachung des wilhelminischen Zeitalters zu wehren und der Jugend durch die Natur ein wirkliches Erleben zu vermitteln. Dieser an sich gute Gedanke wurde im Laufe der Zeit von einer jugendlichen Eigenständigkeit überwuchert, die bald die Trennung der Jugend vom Volksganzen vollzog. Es wurde eine Vielzahl von Organisationen geschaffen, die jede in ihrer eigenen Ideenwelt und als Bund über das Jugendalter hinaus wirken sollte. Während die HJ die Jungens und Mädels zu tüchtigen Volksgenossen erziehen und zur Gemeinschaft zuführen will, bezweckten jene Bünde gerade ein Sonderleben außerhalb der Volksgemeinschaft. Ihr Bund war ihr Leben, gab ihnen den alleinigen Lebensinhalt. Sie redeten der Männerfreundschaft das Wort und förderten dadurch in erschreckendem Maße die Homosexualität in den Reihen der kritiklosen Jugend. Anstelle der Gemeinschaftserziehung wählten sie das Prinzip der Auslese und setzten sich die Sonderbündelei oder den Schicksalsbund zum Ziel. Der Junge selbst hatte, wodurch sich der erhebliche Zuspruch erklärte, das befriedigende Gefühl, eine eigene Weltanschauung – die genau gesehen höchst unklar war – zu besitzen. Darüber hinaus blieb das Erlebnis der bündischen Jugend in einer falschverstandenen Romantik hängen, die zum Teil in ein wildes Räuberdasein oder schließlich im Strichjungentum ausartete. Nach dem Umbruch wurden die bündischen – konfessionellen und politisch gegnerisch eingestellten Jugendverbünde aufgelöst oder eingeschmolzen. Bald kam es aber wieder zu einer größeren Anzahl wilder Cliquenbildung, die als illegale Nachfolger bündischer Gruppen gelten mußten.

Zu ihrer Bekämpfung wurde von der Reichsjugendführung eine besondere Zentralstelle »West« mit dem Sitz in Düsseldorf errichtet, die von 1937 bis 1938 bestand. Mit Ausbruch des Krieges stieg die Entwicklung erneut an. Die politisch-oppositionellen Gruppen sammelten sich zumeist um bündische oder marxistische Elemente und erfaßten im wesentlichen Jugendliche, die der HJ bisher nicht angehört hatten oder aus der HJ ausgeschieden waren. Daraus erklärt sich zum Teil die HJ-feindliche Einstellung.

Die bekannteste politisch-oppositionelle Gruppe ist die der Edelweißpiraten. Ihren Ausgangspunkt haben sie im Westen, namentlich in Köln und Düsseldorf genommen, haben sich aber bereits über weite Gebiete des Reichs erstreckt. Der Kölner Jugendrichter hat kürzlich in einem Bericht ihre Entwicklung und ihr äußeres Erscheinungsbild gekennzeichnet. Sie tragen das Edelweißabzeichen auf oder unter dem linken Rockaufschlag oder aber bunte Stecknadeln in der Farbe des Edelweißes oder in schwarz, rot und gelber Farbe. Soweit sie der HJ angehören, finden sich diese Abzeichen auch offen oder versteckt an der Uniform. Häufig sieht man auch das Totenkopfabzeichen. Die vorschriftsmäßige Kluft der Edelweißpiraten ist: Kurze Hose, weiße Umlegesocken, kariertes Hemd, weißer Pullover und Schal sowie Windjacke. Hinzu kommen besonders lange Haare. In der linken Socke wird ein Kamm, in der rechten ein Messer getragen. Soweit den Bünden Mädchen angehören, tragen diese neben weißen Umlegesocken weiße Pullover oder Kletterwesten. Namentlich in wärmeren Jahreszeiten ziehen sie zu Hunderten zu Fuß, mit dem Rad oder mit der Bahn nach außen. Sie unterscheiden Treffs und Fahrten. Meist täglich treffen sie sich in der Dunkelheit an Straßenecken, in Torwegen oder in Parks. Sie singen gemeinsame Lieder, die meist dem bündischen Gut entstammen oder sich mit russischen Sitten befassen, tauschen Fahrtenerlebnisse aus und berichten über Straftaten. Homosexualität kommt nur selten vor. Dafür üben sie mit den weiblichen Angehörigen den Geschlechtsverkehr aus. Die Jungens gehören überwiegend den Altersklassen von 14 bis 18 Jahren an. Es stoßen aber auch Halberwachsene und Erwachsene zu ihnen. Besonders die Führer, die sich meist als roh und intelligent auszeichnen, stammen aus früheren Bünden oder sind aus politischen Parteien hervorgegangen. Die Mitglieder haben vielfach einen Beruf nicht erlernt oder befinden sich in ständig wechselnden Arbeitsstellen. Häufig sind unter ihnen Arbeitsbummelanten anzutreffen. Die Organisation selbst ist in Gruppen aufgeteilt, deren Bezeichnung sich nach Straßen, Plätzen, Parks oder Bunkern richtet. Erstaunlich ist hierbei, daß zwischen den einzelnen Gruppen ein übereinstimmendes Erscheinungsbild zu erkennen ist. Der Schluß liegt nahe, daß eine Dachorganisation oder zumindest eine einheitliche Führung vorhanden ist, die die Richtlinien gibt. Gewißheit besteht hierüber jedoch nicht.

Die hier geschilderte Erscheinungsform zeigt sich in ihrer Struktur, wenn auch mitunter variiert, bei anderen Cliquen, die unter den verschiedensten Bezeichnungen auftreten, so z.B. Mob, Blase, Meute, Platte oder Schlurf. Sie lehnen sich meist an bündisches Gedankengut an, ohne es bewußt in sich aufzunehmen, und unterhalten zu anderen Cliquen mitunter Querverbindungen freundschaftlicher oder feindlicher Art.

Wie die oben angeführten Beispiele erkennen lassen, sind sie meist von einer HJ-feindlichen Einstellung getragen, hassen alles Disziplinierte und stellen sich somit gegen die Gemeinschaftsordnung. Sie sind aber nicht nur einseitig politisch-oppositionell (neuerdings steigert sich ihre Einstellung zum Teil bis ins staatsfeindliche hinein), sondern zufolge ihrer Zusammensetzung vielfach auch kriminell-asozial, so daß man zwischen beiden Bünden eine klare Trennungslinie oft nicht ziehen kann.

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