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Ottilie Baader, Näherin und Heimarbeiterin (1870er Jahre)

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So ging das zunächst fünf Jahre lang. Und die Jahre vergingen, ohne daß man merkte, daß man jung war und ohne daß das Leben einem etwas gegeben hätte. Um mich herum hatte sich auch so manches geändert. Meine Schwester und dann auch mein Bruder hatten geheiratet, meine jüngste Schwester war bei einer Kahnpartie ertrunken. Der Vater konnte schon lange nicht mehr arbeiten, und so war es mir gegangen, wie es sooft alleingebliebenen Töchtern in einer Familie geht, die nicht rechtzeitig ein eigenes Lebensglück fanden: sie müssen das Ganze zusammenhalten und schließlich nicht nur Mutter, sondern auch noch Vater sein, das heißt Ernährer der Familienmitglieder, die sich nicht selbst erhalten können. So habe ich meinen Vater über zwanzig Jahre erhalten, und ich habe immer so viel arbeiten können, daß es mir gelang, eine Wohnung von Stube und Küche zu halten.

Meinem Bruder starb die Frau, als das erste Kind, ein Mädchen, noch ganz klein war. Ich habe dieses Kind zu mir genommen, und es hat mir in dem Jahr viel Freude gemacht. Es hat dann bei mir laufen gelernt. Aber als mein Bruder sich wieder verheiratete, mußte ich es zurückgeben. Mein Bruder starb selber nach einigen Jahren, und ich habe dann häufig auch noch die beiden Jungens aus der zweiten Ehe bei mir gehabt, weil die Mutter verdienen mußte. Ich kann nicht sagen, daß ich immer sehr froh war. Schließlich hatte auch ich etwas anderes vom Leben erhofft. Ich habe manchmal das Leben so satt gehabt, so Jahr um Jahr immer an der Nähmaschine, immer nur Kragen und Manschetten vor sich, ein Dutzend nach dem anderen, das Leben hatte gar keinen Wert, man war nur eine Arbeitsmaschine und hatte keine Zukunftsaussichten. Und von dem Schönen in der Welt sah und hörte man nichts, davon war man einfach ausgeschlossen.



Quelle: Ottilie Baader, Ein steiniger Weg. Lebenserinnerungen einer Sozialistin (orig. 1921), 3. bearb. Ausg. mit Einl. von Marie Juchacz. Berlin and Bonn: J.H.W. Dietz Nachf., 1979, S. 17-20.

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