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Wilhelm Liebknecht zu den Parlamentswahlen als Mittel zur Agitation (31. Mai 1869)

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Also nicht als Hebel der Demokratie, sondern als Waffe der Reaktion wurde das allgemeine Stimmrecht oktroyiert.

Es steht unter der vollständigsten Kontrolle der Regierung – hier noch viel mehr als in Frankreich, wo das Volk politisch mehr geschult ist, wo es drei Revolutionen hinter sich hat und die vierte vor sich. Man kann mit Sicherheit behaupten, daß in Preußen kein Abgeordneter in den »Reichstag« gewählt werden kann, dessen Kandidatur die Regierung ernsthaft bekämpft. [ . . . ] Nehmen wir an, es tritt ein Kandidat auf, den die Regierung durchaus nicht in dem »Reichstag« haben will: sie konfisziert die Zeitungen, die seine Wahl empfehlen – gesetzlich; sie konfisziert die Wahlaufrufe – gesetzlich; sie verbietet die Wählerversammlungen – gesetzlich; oder sie erlaubt die Wählerversammlungen und löst sie dann auf – gesetzlich; sie verhaftet die Fürsprecher des Kandidaten – gesetzlich; sie verhaftet den Kandidaten selbst – gesetzlich. Verhaftete man doch neulich sogar einen »Reichstagsabgeordneten«, und würde doch derselbe noch heut im Gefängnis sitzen, wenn die Nationalliberalen nicht durch ein Lächeln Bismarcks von der Harmlosigkeit des »Märtyrers« überzeugt worden wären.

Aber angenommen, die Regierung mache von ihrer Macht aus Kraftgefühl oder Berechnung keinen Gebrauch, und es gelinge, wie das der Traum einiger sozialistischen Phantasiepolitiker ist, eine sozialdemokratische Majorität in den Reichstag zu wählen – was sollte die Majorität tun? Hic Rhodus hic salta. Jetzt ist der Moment, die Gesellschaft umzugestalten und den Staat. Die Majorität faßt einen weltgeschichtlichen Beschluß, die neue Zeit wird geboren – ach nein, eine Compagnie Soldaten jagt die sozialdemokratische Majorität zum Tempel hinaus, und lassen die Herren sich das nicht ruhig gefallen, so werden sie von ein paar Schutzleuten in die Stadtvoigtei abgeführt und haben dort Zeit, über ihr donquixotisches Treiben nachzudenken.

Revolutionen werden nicht mit hoher obrigkeitlicher Erlaubnis gemacht; die sozialistische Idee kann nicht innerhalb des heutigen Staats verwirklicht werden; sie muß ihn stürzen, um ins Leben treten zu können.

Kein Friede mit dem heutigen Staat!

Und weg mit dem Kultus des allgemeinen und direkten Wahlrechts!

Beteiligen wir uns nach wie vor energisch an den Wahlen, aber benutzen wir sie bloß als Agitationsmittel, und versäumen wir ja nicht, hervorzuheben, daß die Wahlurne nicht die Wiege des demokratischen Staats werden kann. Das allgemeine Stimmrecht erlangt seinen bestimmenden Einfluß auf Staat und Gesellschaft erst nach Beseitigung des Polizei- und Militärstaats.

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Quelle: Wilhelm Liebknecht, Über die politische Stellung der Sozialdemokratie insbesondere mit Bezug auf den Reichstag. Ein Vortrag, gehalten in einer öffentlichen Versammlung des Demokratischen Arbeitervereins zu Berlin am 31. Mai 1869, 3. unveränd. Ausg. Leipzig, 1874, S. 3-16.

Abgedruckt in Peter Wende unter Mitarbeit von Inge Schlotzhauer, Hg., Politische Reden II. 1869-1914, Bibliothek der Geschichte und Politik, Bd. 25. Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag, 1990, S. 9-27, hier S. 9-22.

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