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Wilhelm Liebknecht zu den Parlamentswahlen als Mittel zur Agitation (31. Mai 1869)

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Doch angenommen, es gelänge, irgend eine sonst unaussprechbare Wahrheit in den »Reichstag« einzuschmuggeln – was wäre damit erreicht? Das Gesetz erlaubt unzweifelhaft den freien Abdruck der betreffenden Rede; allein das Gesetz macht auch die Presse, wenn sie bloß Auszüge aus einer Rede, oder eine einzelne Rede anstatt der ganzen Debatte bringt, für jedes Wort der vollständig oder auszüglich abgedruckten Rede verantwortlich. Und die ganzen Debatten nach dem allein berechtigten stenographischen Bericht mitzuteilen, ist selbst den größten Zeitungen aus räumlichen Gründen unmöglich, geschweige denn den kleinen sozialdemokratischen Blättern.

Um die pfiffig in den »Reichstag« eingeschmuggelten Wahrheiten wieder aus dem »Reichstag« in’s Volk herauszuschmuggeln, bleibt demnach kein anderes Mittel, als der amtliche stenographische Bericht, der aber wegen seines Umfanges und seines Preises den Massen nicht zugänglich ist.

Was die Arbeiter von Debatten über die soziale Frage erfahren, erfahren sie durch die Arbeiterblätter, und was diese in der Form von Parlamentsberichten bringen, können sie weit besser, viel sorgfältiger ausgearbeitet, in Form von selbstständigen Leitartikeln und Abhandlungen bringen.

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Ich will damit nicht behaupten, daß der parlamentarische Kampf immer und unter allen Umständen zu verwerfen sei. In Perioden chronischer Erschlaffung, wo das Blut schlammartig träg durch den politischen Körper schleicht, wo der niedergeschmetterte Volksgeist auf Jahrzehnte hinaus keine Rettung sieht, in solchen Perioden mag es von Nutzen sein, in irgend einem Parlament ein kleines Freiheitslämpchen zu pflegen, das hell hineinscheint in die umringende Nacht.

Und wenn das Volk, wenn die »Arbeiterbataillone« gerüstet an den Toren des Parlaments stehen, dann kann vielleicht ein von der Tribüne geschleudertes Wort, zündend wie ein elektrischer Funke, das Signal zur befreienden Tat geben.

Aber jetzt sind wir, Gott sei Dank, nicht mehr in einer Zeit der chronischen Versumpftheit – leider noch nicht am Vorabend einer aus dem Innern des Volkes hervorquellenden Tat.

Ich unterschätze nicht die Bedeutung des mündlichen Wortes. Allein in Zeiten der Krise, in Zeiten, wo eine Welt im Absterben, eine andere im Entstehen ist, gehören die Vertreter des Volks unter das Volk. Ich für meinen Teil halte es nicht bloß für ehrenvoller, sondern auch für ersprießlicher, in einer Versammlung rechtschaffener Arbeiter zu reden, als in jener auf den Wink eines Recht und Menschen verachtenden Staatsmannes zusammengelaufenen Gesellschaft von Junkern, Apostaten und Nullen, die Norddeutscher »Reichstag« genannt wird.

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