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Paul Göhre beschreibt einen Wahlkampf der Sozialisten in Chemnitz (1890)

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Das ist, was ich an planmäßiger organisierter Agitation der sozialdemokratischen Partei an unserm Orte bemerkt habe. Ich behaupte und glaube nicht, daß sie sich auf diese Arbeit beschränkte; aber ich habe nur das, was ich schilderte, beobachten können. Ihre Leiter und Hauptträger war die nicht allzu zahlreiche Schar der Elitesozialdemokraten, der überzeugten Genossen, die die Phalanx der Partei an jedem Orte, den Halte- und Krystallisationspunkt für die Tausende bilden, die sich um sie gruppieren. Aus dieser Schar gingen die Kandidaten für die sozialdemokratischen Wahlen, die Unterführer in den einzelnen Bezirken, die Vorstände der Wahl- und Fachvereine, die Komiteemitglieder für die Agitation bei Wahlen hervor. Sie allein waren in abstufender Reihenfolge mehr oder weniger eingeweiht in die Pläne der gesamten allgemeinen Zentralleitung, waren deren ausführende Organe, erhielten allein Mitteilungen und Anweisungen von ihr. Sie leiteten die Feste, waren die Wortführer in den öffentlichen Versammlungen und Auseinandersetzungen mit den Gegnern, die Wanderredner in der Umgegend, die unermüdlichen Vortragenden in den regelmäßigen Sitzungen der Wahl- und Fachvereine; sie instruierten auch die tonangebenden Personen in den Betrieben, in denen nicht selbst einer von ihnen beschäftigt war. Von den übrigen Arbeitern wurden sie — äußerlich wenigstens — widerspruchslos als die Führer anerkannt, und mit einem absonderlichen interessanten Gemisch kameradschaftlicher Vertraulichkeit und achtungsvollen Respekts behandelt; sie ihrerseits erwiderten diesen Ton wenigstens vielfach mit einer Art berechneten Wohlwollens und selbstgewisser Zurückhaltung. Doch war nicht jeder von ihnen bei jedem gleich gefeiert und geachtet. Einer gefiel besser als der andre; den hatte man lieber als jenen. Darüber entschied die Art seines Auftretens, seiner Reden, seiner ganzen Gesinnung. So gab es z. B. zwei Brüder R., die damals mit an der Spitze der Chemnitzer Agitation standen, und die — namentlich einer von ihnen — in den Sitzungen unsers Vereins sowie bei den Sonntagsfesten besonders das große Wort führten, heute aber, wie ich höre, der eine aus der Partei ausgeschlossen, der andre ausgetreten sind. Diese hatte man wegen ihres polternden, aufbrausenden, anmaßenden Wesens nicht allzu gern, und man zog andre wegen ihrer mildern, geschloßnern, ernstern Art vor. Es sind mir mehrmals in der Fabrik solche ganz selbständige Urteile von ältern Arbeitsgenossen über Führer ausgesprochen worden. Gleichwohl erkannte man sie als die leitenden Persönlichkeiten an, lauschte ihren autoritativen Worten, respektierte die Anordnungen, die sie von Parteiwegen zur Ausbreitung eben der von ihnen gleichmäßig organisierten und geleiteten und in der That meist wohlüberlegten Agitation geben zu müssen glaubten. [ . . . ]

Nach alledem darf man sich die Arbeiterschaft, unter der ich lebte, in Hinsicht auf ihre politischen und sozialen Gesinnungen nicht als eine uniforme, gleichmäßige und gleichwertige Masse vorstellen, sondern vielmehr — in einem Bilde — als einen gewaltigen pyramidalen Bau, zu dem sie durch den Mörtel der sozialdemokratischen Agitation fest und wuchtig genug zusammengefügt ist. Ihre Spitze bilden die oben vielgenannten Elitesozialdemokraten. Aber von diesen, den Führern, und der kleinen Schar ihrer Getreusten geht es allmählich in immer breitern Absätzen bis zu der chaotischen Masse aller derer hinab, die nur deshalb Sozialdemokraten sind, weil sie, was ihnen heutzutage durchaus nicht zu verdenken ist, bei den Wahlen einem von „ihresgleichen,“ einem Arbeiterkandidaten, einem Sozialdemokraten ihre Stimme geben.



Quelle: Paul Göhre, Drei Monate Fabrikarbeiter und Handwerksbursche. Eine praktische Studie. Leipzig: Grunow, 1891, S. 88-97, 102-03, 142.

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