GHDI logo

Paul Göhre beschreibt einen Wahlkampf der Sozialisten in Chemnitz (1890)

Seite 2 von 7    Druckfassung    zurück zur Liste vorheriges Dokument      nächstes Dokument


Dem fast jeder dieser Bezirke besaß, und zwar nicht bloß bei herannahender Reichstagswahl, seinen sozialdemokratischen Wahlverein, der das ganze Jahr hindurch eine stille aber kluge und tiefgehende Thätigkeit entfaltete, und dessen Mitglieder sich aus den überzeugtesten und zielbewußtesten Anhängern der Partei zusammensetzten. Der Wahlverein hat die Agitation für die Reichstags- und neuerdings auch Gemeinderatswahlen in der Hand; er stellt bei großen Wahlversammlungen stets eine nie fehlende Schar, die bei allen Gelegenheiten in blinder Treue nach bekanntem, lärmendem Rezept die Partei ihrer Arbeiterredner ergreift; er ist eine der Sammelstellen für die Parteigelder und — das bedeutsamste an ihm — die Hochschule für die sozialdemokratischen Redner. Denn nicht nur die neugegründeten Arbeiterbildungsvereine, nicht nur besondre Institute, wie deren in Hamburg eines in der Stille blühen soll, dienen diesem Zwecke. Man kann dreist behaupten, daß jeder sozialdemokratische Wahlverein eine solche Rednerschule für Anfänger bildet. Wenigstens war das bei dem unsers Vorortes, der etwa 120 Mitglieder zählen sollte und eine Monatssteuer von zehn Pfennigen erhob, wirklich der Fall. Darum lag immer auch auf den Debatten, die sich an den jedesmaligen Vortrag oder die Vorlesung von Artikeln aus der sozialdemokratischen Volkstribüne knüpfte, der von allen beherzigte Nachdruck. Ja der Vorsitzende unsers Vereins sprach das zu Beginn jeder Debatte geradezu aus, wenn er zur lebhaften Teilnahme an ihnen aufforderte und diese Aufforderung mit immer denselben Worten etwa so begründete: „Die Sitzungen unsers Wahlvereins sind in erster Linie der Debatten wegen da. Es wird gewünscht, daß jeder redet, jeder sich ausspricht. Und wenn das auch in der kläglichsten Form geschieht, jeder ist sicher, nicht ausgelacht zu werden, denn eben dazu sind wir allvierzehntägig hier zusammen, damit wir uns schulen, um in den großen Versammlungen unsern Gegnern mit Erfolg antworten zu können.” Und ich muß sagen, man kam dieser Aufforderung getreulich nach. Bis gegen zwölf Uhr nachts, von acht Uhr abends, zogen sich meist die Debatten der von des Tages Last und Mühe müden Leute hin. Wer immer etwas auf dem Herzen hatte, redete es herunter, alt und jung, ohne Unterschied. Oft in der holprigsten Form, in Sätzen, von denen kein einziger richtig gebaut war, Gedanken, die ein grauenhaftes Gemisch von Wissen und Unwissenheit, von praktischer Erfahrung und Mangel an Überblick über das große Ganze, und oft eine Verranntheit in Ansichten zeigte, über die selbst die klaren, klugen Köpfe unter den Genossen erschraken. Daneben aber zeigte sich unter uns auch eine Zahl so gewandter, so schlagfertiger, so scharf und praktisch urteilender Redner, daß ich im stillen voll Bewunderung und Scham diesen einfachen Webern, Schlossern, Handarbeitern zuhörte, deren Beredsamkeit und Sicherheit im Denken und Auftreten nach meinen Erfahrungen wohl nur eine kleine Zahl unsrer Durchschnittsgebildeten gleichkommt. Und alle, die da redeten, auch wenn sie das tollste Zeug vorbrachten, wurden mit Ruhe und Aufmerksamkeit und fast kindlichem Ernst angehört und in dem, was sie nun eigentlich sagen wollten, zu meinem Verwundern auch deutlich und klar verstanden. Daß man sich in diesen Debatten mitunter tüchtig in die Haare fuhr, daß eine Reihe verschiedener Ansichten aufeinander platzten, ist ebenfalls und zwar darum besonders erwähnenswert, weil im Gegensatz dazu in großen Versammlungen mit ihren Gegnern unter den Sozialdemokraten immer die geschlossenste Einheit an den Tag gelegt zu werden pflegt. In gewissem Sinne die Fortsetzung dieser Debatten bildete die Beantwortung der Fragezettel, die während der Debatte von den Leuten in den Fragekasten geworfen wurden und meist irgend eine Aufklärung über einen in der Debatte berührten Punkt, über ein Fremdwort oder über eine in der Zeitung gefundene und nicht verstandene Notiz heischten. Meist waren die Antworten, die der Vorsitzende, der Redner oder ein andrer gab, leidlich zutreffend, manchmal aber auch, wie selbstverständlich, nur dürftig oder gar falsch. Aber sie wurden alle mit der siegesgewissen Sicherheit gegeben, die immer dem Halbgebildeten, an seine Sache oder sich selbst glaubenden eigen ist. Hinter diesen Debatten trat der Wert der Vorträge selbst deutlich zurück. Sie waren meist kurz und wurden immer von Parteigrößen am Orte, also Chemnitzern, gehalten; oft taugten sie gar nichts und waren sichtlich aus den neuesten Zeitungsnachrichten zusammengestoppelt. Solch ein Vortrag pflegte dann, wie das auch anderwärts unter den Sozialdemokraten allgemeine Sitte ist, von dem betreffenden Verfasser nicht nur in unserm, sondern noch in fünf, ja zehn andern Brudervereinen mit dem gleichen Nachdruck und der gleichen Emphase fast wörtlich vorgetragen zu werden, eine Erscheinung, die sich nur aus dem geradezu fanatischen Agitationseifer und wiederum der Halbbildung erklären läßt, durch die den Leuten die Langeweile solchen Wiederkäuens nicht zum Bewußtsein zu kommen scheint.

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite