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Eine Neueinschätzung des deutschen Liberalismus: Hermann Baumgartens Selbstkritik (Anfang Oktober 1866)

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Noch eben waren wir in einem Wirrwarr widerstreitender Kräfte begraben, dessen Lösung sich unzählige Parteinuancen nach subjektiver Richtung, nach lokalem Interesse, nach einer unübersehbaren Mannigfaltigkeit von Zuneigungen und Abneigungen so oder so ausdenken konnten. Für unsere politische Unart war das die gefährlichste aller Situationen. Scheinbar hatten wir uns allerdings in einige große Gruppen gesammelt. Aber diese Parteibildungen ruhten auf höchst bedenklichen Täuschungen. Der scheinbar so wohl disziplinierte Nationalverein schloß Gegensätze in sich, die sich wohl der Phrase einstimmig votierter Resolutionen unterordnen konnten, aber die Vereinsgenossen nach allen Seiten zersprengt haben würden, wenn sie je in die Lage gekommen wären, statt auf dem geduldigen Papier in der politischen Realität zu operieren. Der kleindeutsche Patriot hatte in Hannover eine andere Herzensmeinung als in Braunschweig, in Hamburg als in Bremen, in Kurhessen als in Hessen-Darmstadt, und die besten Großdeutschen, so warm sie »Gesamtdeutschland« im Busen trugen, dachten sich die praktische Lösung ihres schönen Programms doch sehr verschieden, ob sie im Westen oder Osten des Schwarzwaldes, im Westen oder Osten des Lech wohnten.

Der Kern unserer deutschen Phantasien war Partikularismus, der hatte Fleisch und Bein. Wir hofften einmal Deutsche zu werden, aber wir waren leibhaftige Hannoveraner, Badener, Bayern. Und die ungeheure Masse der Bevölkerung war nur das. Und auch derjenige, der sich seines Deutschtums aufrichtig bewußt, dem es eine ernste Herzensangelegenheit war, dieser Unwürdigkeit der Gegenwart mit seiner besten Kraft entgegenzuarbeiten, die Macht aller realen Verhältnisse band ihn nichtsdestoweniger unlöslich fest an das kleine Sonderwesen, dem er angehörte. Ihm steuerte, ihm gehorchte, ihm diente er. Wo war das große Ganze, nach dem er sehnsüchtig die Arme ausstreckte? In den Lüften! Es lebte in seiner Phantasie, in seinen Träumen. Er konnte es besingen, er konnte ihm donnernde Hochs ausbringen, er konnte sich dafür begeistern, aber er konnte wenig oder nichts dafür tun. Hatte eine unpolitische, wesentlich von religiösen, literarischen, privaten Interessen erfüllte Vergangenheit uns daran gewöhnt, die einfachsten politischen Fragen durch unsere Theorien und Doktrinen zu verwirren, so konnte es nicht ausbleiben, daß die komplizierteste aller Fragen, die deutsche, unter uns eine wahrhaft babylonische Sprachverwirrung anrichtete.

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