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Friedrich Fabri, Bedarf Deutschland der Kolonien? (1879)

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Unter den wirthschaftlichen Gründen, welche das Aufkommen und die rasche, mächtige Ausbreitung der Social-Demokratie bei uns reichlich gefördert haben, steht neben unserer ungesund schnell entwickelten Industrie mit ihrem Gefolge von Krisen, von Ueberproduktion und Arbeitslosigkeit die rasche Bevölkerungs-Zunahme (besonders in den Industrie-Bezirken) gewiß mit vorne an. Freilich sind die wirthschaftlichen Gründe längst nicht die einzigen, ja heute nicht einmal die vornehmsten für das Entstehen und die Entwicklung der socialdemokratischen Bewegung. Wie überall im Leben der Menschheit, sind auch hier die moralischen Faktoren, die an den wirthschaftlichen ihre Grundlage suchen und finden, die eigentlich entscheidenden. Allein mit dem Nachweis, auch wenn er noch so treffend und scharfsinnig geführt wird, daß die wirthschaftlichen Forderungen der Social-Demokratie unerfüllbar und im letzten Grunde eine Utopie seien, ist daher noch wenig ausgerichtet. Ist das Christenthum mit seiner versöhnenden Kraft in weiten Kreisen bei uns leider in Unkenntniß, ja in Haß und Verachtung gerathen, sind die moralischen, sind die allgemeinsten religiösen Ueberzeugungen erschüttert, ist die materialistische Doktrin an ihre Stelle getreten, so kann Niemand den Menschen aufhalten, an dieses Erdenleben Forderungen zu stellen, welche es niemals zu befriedigen vermag. In der schreienden Dissonanz dieses selbstgemachten Hoffnungsbildes zu der gegebenen nackten Wirklichkeit entzündet sich dann jener grimmige Haß gegen alles Bestehende, welcher sich unter Anderem vorspiegelt, nur durch einen gewaltsamen, blutigen Umsturz lasse sich Besserung der Lage erreichen. In diesen psychologischen Stimmungen liegt der Angelpunkt unserer socialdemokratischen Agitation und ihres Erfolges. Vermöchte Jemand, unseren Social-Demokraten den Begriff von menschlichem Glück, den sie im letzten Jahrzehnt in ihre Einbildungskraft energisch aufgenommen haben, zu entkräften, das Geheimniß der Zufriedenheit ihnen aufzuschließen und ein neues Hoffnungsbild in ihnen zu erwecken, so würde unsere socialdemokratische Krisis im Wesentlichen gelöst, d.h. es würde die Stimmung geschaffen sein, auf Grund deren die wirthschaftlichen Reformen und Hülfen, auf welche unser Arbeiterstand mit vollem Rechte Anspruch hat, mit Erfolg sich durchführen ließen. Ohne jene Stimmung, zu deren Erweckung freilich vor Allem ein vielfach leider noch fehlendes, aufrichtiges Wohlwollen und ernste Opferwilligkeit von Seite der besitzenden Classen nothwendig ist, werden auch die bestgemeinten Versuche wirthschaftlicher Hülfeleistung gewöhnlich nur mit abstoßendem Undank belohnt werden. Sollte nun die Colonial-Frage, resp. eine Organisation und Leitung der deutschen Auswanderung, nicht auch nach dieser Richtung bedeutungsvoll wirken können? Ja, müßte sie dies nicht thun? Ist unsere Social-Demokratie nicht das geworden, was sie ist, gerade in der Zeit, in welcher mit dem Beginn unserer wirthschaftlichen Krisis die vorhandene Uebervölkerung sich nachdrücklich fühlbar zu machen begann? Ich meine aber nicht bloß die Auswanderung, als eine Art Sicherheits-Ventil. Viel höher schätze ich zunächst den psychologischen Eindruck, den eine gut geleitete, in größerem Style ausgeführte und in ihren Erfolgen günstige Auswanderung auf die Einbildungskraft - deren große Bedeutung in allen Gebieten des Denkens und Strebens meist viel zu wenig erkannt wird - unseres Volkes bald in weiten Kreisen erwecken würde. Wenn auch wohl nicht bei den Grimmigen, so doch bei der Mehrzahl der mehr Irregeleiteten und wirklich sich gedrückt Fühlenden würde solche Auswanderung ein neues, nicht unerreichbares Hoffnungsbild erwecken, und schon damit wäre der um sich fressenden Unzufriedenheit eine Schranke gesetzt*).

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* Ob und wie weit bei einer Organisation der deutschen Auswanderung die Reichs-Regierung die Unvermögenden zum Zwecke der Uebersiedelung zu unterstützen habe, ist hier natürlich nicht weiter zu untersuchen. Wir würden unter gewissen Vorbehalten diese Frage aber entschieden bejahen, schon um das zu erreichen, daß jeder bedrängte, in unzureichendem Verdienste stehende und mit ungenügenden Mitteln zur Auswanderung ausgerüstete Familienvater sich zu sagen vermag: ich kann meine Lage verbessern. Wo dieses Bewußtsein, ist schon halb geholfen, jedenfalls der Hauptstachel des Druckes, unter dem man leidet, entfernt. [Fußnote stammt aus: Friedrich Fabri, Bedarf Deutschland der Colonien? / Does Germany Need Colonies? Eine politische-ökonomische Betrachtung von D[r. Theol.] Friedrich Fabri, 3. Ausg. Gotha, 1883. ]

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