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Gerhart Hauptmann, Vor Sonnenaufgang, Uraufführung und skandalträchtige Aufnahme durch das Publikum (20. Oktober 1889)

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HELENE. Es gibt wohl nur sehr wenige Menschen, die so veranlagt sind. — Es muß ein Glück sein, mit solcher Veranlagung geboren zu sein.

LOTH. Geboren wird man wohl auch nicht damit. Man kommt dazu durch die Verkehrtheit unserer Verhältnisse, scheint mir; — nur muß man für das Verkehrte einen Sinn haben: das ist es! Hat man den, und leidet man so bewußt unter den verkehrten Verhältnissen, dann wird man mit Notwendigkeit zu dem, was ich bin.

HELENE. Wenn ich Sie nur besser . . . welche Verhältnisse nennen Sie zum Beispiel verkehrt?

LOTH. Es ist zum Beispiel verkehrt, wenn der im Schweiße seines Angesichts Arbeitende hungert und der Faule im Überflusse leben darf. Es ist verkehrt, den Mord im Frieden zu bestrafen und den Mord im Kriege zu belohnen. Es ist verkehrt, den Henker zu verachten und selbst, wie es die Soldaten tun, mit einem Menschenabschlachtungsinstrument, wie es der Degen oder der Säbel ist, an der Seite stolz herumzulaufen. Den Henker, der das mit dem Beile täte, würde man zweifelsohne steinigen. Verkehrt ist es dann, die Religion Christi, diese Religion der Duldung, Vergebung und Liebe, als Staatsreligion zu haben und dabei ganze Völker zu vollendeten Menschenschlächtern heranzubilden. Dies sind einige unter Millionen, müssen Sie bedenken. Es kostet Mühe, sich durch alle diese Verkehrtheiten hindurchzuringen; man muß früh anfangen.

HELENE. Wie sind Sie denn nur so auf alles dies gekommen? Es ist so einfach, und doch kommt man nicht darauf.

LOTH. Ich mag wohl durch meinen Entwicklungsgang darauf gekommen sein, durch Gespräche mit Freunden, durch Lektüre, durch eigenes Denken. Hinter die erste Verkehrtheit kam ich als kleiner Junge. Ich log mal sehr stark und bekam dafür die schrecklichsten Prügel von meinem Vater; kurz darauf fuhr ich mit ihm auf der Eisenbahn, und da merkte ich, daß mein Vater auch log und es für ganz selbstverständlich hielt, zu lügen; ich war damals fünf Jahre, und mein Vater sagte dem Schaffner, ich sei noch nicht vier, der freien Fahrt halber, die Kinder unter vier Jahren genießen. Dann sagte der Lehrer auch mal: sei fleißig, halt dich brav, dann wird es dir auch unfehlbar gut gehen im Leben. Der Mann lehrte uns eine Verkehrtheit, dahinter kam ich sehr bald. Mein Vater war brav, ehrlich, durch und durch bieder, und ein Schuft, der noch jetzt als reicher Mann lebt, betrog ihn um seine paar tausend Taler. Bei ebendiesem Schuft, der eine große Seifenfabrik besaß, mußte mein Vater sogar, durch die Not getrieben, in Stellung treten.

HELENE. Unsereins wagt es gar nicht — wagt es gar nicht, so etwas für verkehrt anzusehen, höchstens ganz im stillen empfindet man es. Man empfindet es oft sogar, und dann — wird einem ganz verzweifelt zumut.

LOTH. Ich erinnere mich einer Verkehrtheit, die mir ganz besonders klar als solche vor Augen trat. Bis dahin glaubte ich: der Mord werde unter allen Umständen als ein Verbrechen bestraft; danach wurde mir jedoch klar, daß nur die milderen Formen des Mordes ungesetzlich sind.

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