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Sozialdemokraten diskutieren über die staatliche Sozialversicherungspolitik (1890)

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Diese Erfahrung, die ich da eben ausführte, und für die ich auch besonders aus der aufmerksamen Verfolgung der jüngsten Entwicklung der sozialdemokratischen Gewerkschaftsbewegung ausreichende Beweise bringen könnte, machte ich in besonders klarer und überraschender Weise z. B. einmal in einer Sitzung unsers sozialdemokratischen Wahlvereins. Hier trug an diesem Abend der damalige, jetzt auch abgedrückte Redakteur der Chemnitzer sozialdemokratischen „Presse,“ wie ich glaube eine ehrliche Seele, über die damals noch nicht in Kraft getretene Alters- und Invaliditätsversicherung vor, zunächst hauptsächlich zur Orientierung der Genossen. Es war eine im großen und ganzen durchaus sachlich gehaltene Rede. Sie gipfelte in der doppelten Behauptung, daß das neue Gesetz in der That vielfach noch mangelhaft sei, und daß es jedenfalls nicht die durchgreifende Hilfe für die Arbeiterschaft und die Lösung der sozialen Probleme sei, daß man sich aber dennoch nicht abschrecken lassen dürfte, sondern nun zunächst einmal das Angebotene annehmen, aber zugleich wacker an der allmählichen Verbesserung dieses Gesetzes mitarbeiten sollte. Man sollte, so schloß er, endlich einmal mit dem ganz überflüssigen Räsonnieren und Schnauzen aufhören. Trotz allem steckte in der Arbeiterversicherung ein guter Kern, den immer mehr herauszuschälen die Hauptaufgabe wäre. Er gab damit mutvoll wohl einer Meinung Ausdruck, die vielfach unter den Arbeitsgenossen verbreitet war, sich aber nur selten und schüchtern ans Tageslicht wagte, nachdem die offizielle Sozialdemokratie ihr Verdikt über die heutige Versicherungsgesetzgebung ausgesprochen hat. Denn man empfindet heute schon dankbar, wenn auch als etwas Selbstverständliches die bereits deutlich spürbaren Wohlthaten des Gesetzes. Wenn man irgendwie über sie klagte, so betraf das nach meiner Beobachtung immer nur einzelne Mängel, wie die dreitägige Karenzzeit zu Anfang einer jeden Krankheit, oder Mißstände, die sich in der Verwaltung herausstellten, und an denen oft nur die an ihrer Spitze stehenden Personen die Schuld hatten. So erzürnte ein Fall, den ich gelegentlich des Besuches eines meiner erkrankten Arbeitsgenossen erfuhr, ihn und seine Familie besonders sehr. Es handelte sich da um eine Böhmin, die, des Deutschen nicht mächtig, bei dieser Familie im vergangnen Sommer in Schlafstelle gewesen war und auf einem Bau, wie das in Chemnitz sehr Sitte war, in Arbeit stand. Diese wurde krank. Der herbeigerufene Arzt aber suchte sie, anstatt sie zu behandeln, schleunigst in ihre Heimat zu ihren wohlhabenden Eltern abzuschieben. Ihrer Wirtin, die sie treulich pflegte, fiel das auf, sie spürte der Sache nach, und es stellte sich heraus, daß die Böhmin sowohl wie eine ganze Reihe ihrer Arbeitsgenossinnen überhaupt nicht bei der Krankenkasse angemeldet waren: Bauunternehmer und Krankenkassenarzt hätten, wie meine Gewährsmännin, die ich übrigens nicht auf die Wahrheit ihrer Erzählung kontrollieren konnte, behauptete, in gleicher Weise Schuld und – Profit daran.

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