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Emil Lehmann spricht zu den Leipziger Juden über die antisemitische Bewegung (11. April 1880)

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Ohne den Vorwurf der „Selbstgerechtigkeit“ zu fürchten, den jener Historiker uns zuschleudert, darf ich für die Mehrheit unsrer Glaubensgenossen diese Frage bejahen. In dem Maße und Verhältnisse, in dem unsre christlichen Mitbürger alle diese Pflichten erfüllen, geschieht es auch in jüdischen Kreisen. Aber reicht das aus? Liegt nicht vielleicht manchem von dem, was in jenen Schriften gegen uns vorgebracht ward, namentlich, soweit es einzelne Vorkommnisse anlangt, doch etwas Wahres zu Grunde? Hierzu rechne ich insbesondere den frivolen, witzelnden Trieb, die Reklame, die Zudringlichkeit, die Prahlerei, den Wucher, den Hang nach mühelosem Erwerbe.

Frivolität ist dem Juden von Haus aus fremd. Unsre erhabene Literatur, unsre Geschichte bezeugt es. Erst die französirende Aufklärungsperiode des vorigen Jahrhunderts importirte diese Neigung in halbgebildete Kreise, jüdische wie christliche. Auch das Haschen nach Witz ist keine ursprünglich jüdische Eigenthümlichkeit. Aus dem Talmud, diesem uns Allen mehr oder minder unbekannten Buche, sind uns nur die Sprüche der Väter geläufig, die jedes Gebetbuch zieren und in der That zu dem Herrlichsten gehören, was die Spruchweisheit an tiefer Ethik hervorgebracht. Darin ist von Witzen und Witzeln keine Spur. Diese Eigenthümlichkeit entwickelte sich erst im Drucke des Ghetto. Der Witz ist die geistige Waffe des Verfolgten. Wenn aber der sonst so verdienstvolle jüdische Geschichtsschreiber, Professor Grätz, dem jener Historiker die scharfen, obschon durch die Verfolgungen und Zurücksetzungen erklärbaren Ausdrücke gegen Deutschland mit Recht zum Vorwurf macht, an dem edelsten und hervorragendsten aller deutschen Juden, Gabriel Rießer, bemängelt, daß er nicht witzig geschrieben – dann ist es Zeit hervorzuheben, daß wir den Witz als jüdische Sonderheit nicht in Anspruch nehmen, daß uns der Ernst, die Wahrhaftigkeit, die Gesinnung vor allem werth ist.

Der Wucher, die Reklame, der mühelose Gewinn – diese Zeitübel wurzeln nicht ausschließlich, kaum verhältnißmäßig auf jüdischem Boden, zu ihnen haben Genossen aller Religionen ihr Kontingent geliefert. Aber unsre Pflicht ist es, unsre Glaubensgenossen vor allem zu mahnen, selbst all’ das zu meiden und ihre Kinder ehrenvollen, nützlichen Berufen zuzuführen. Und in dieser Richtung hat der Ausschuß des Gemeindebundes wiederholt seine Schuldigkeit gethan.

Man wird uns zwar trotz alledem noch einhalten, wir vertreten – wie jener Historiker sagt – eine Doppelnationalität. Das aber ist einfach unwahr und unhistorisch. Die jüdischen Deutschen sind Deutsche wie die christlichen Deutschen. Ihr Judenthum verhält sich zu ihrem Deutschthum grade so, wie das Freimaurerthum, die evangelische Allianz. Das Freimaurerthum ist über die ganze Welt verbreitet, kein Urtheilsfähiger wird aber deshalb einen deutschen Freimaurer einen schlechten Deutschen nennen. Im Gegentheil, wer das Freimaurerthum kennt, und wer das Judenthum kennt, wird sagen, die Deutschen, die ihnen anhängen, gehören, wenn sie deren Lehren befolgen, zu den besseren Deutschen.

Man sollte heutzutage, in einer Zeit des erbitterten Kampfes der Pessimisten und Materialisten gegen alles Ideale, eher dahin trachten, die Juden, gleichviel welcher religiösen Richtung, als Genossen im idealen, religiösen Streben anzuerkennen und heranzuziehen, statt sie abzuweisen.

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