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Emil Lehmann spricht zu den Leipziger Juden über die antisemitische Bewegung (11. April 1880)

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Anders und schlimmer steht es mit der von dem oftgenannten Historiker vertretenen Richtung. Freilich gerade in seiner hier einschlagenden Polemik hat er sich nicht als Historiker erprobt. Denn was er von dem Gegensatz zwischen portugiesischen und deutschen Juden, von der heutzutage hervorragenderen Tüchtigkeit und Leistungsfähigkeit der ersteren, von der polnischen Abstammung der letzteren sagt, ist unhistorisch; unhistorisch auch seine Behauptung, daß das deutsche Volk ein christliches Volk; unlogisch seine Unterscheidung zwischen christlichem Staat, den er ablehnt, und dem christlichen Volke, als das er – ohne Rücksicht auf den religiösen Standpunkt – ja mit Einschluß der Ungläubigen – die Deutschen bezeichnet. Beiläufig bemerkt: Wie kommt es doch, daß jener Historiker den französischen, den englischen Juden ein so befriedigendes Zeugniß abzugeben sich veranlaßt sieht?

Weil diese viele Jahrzehnte länger im Besitze der Rechte sind, die uns erst verhältnißmäßig kurze Zeit gegeben sind.

Dort also – das giebt man selbst von dieser Seite zu – hat sich in längerer Dauer bewährt, was man hier in einer Uebergangszeit in Frage stellen will.

So schief und so widerlegbar, so trefflich widerlegt auch diese seine Behauptungen sind – Eins dürfen wir uns nicht verschweigen: sie sind nicht die Behauptungen eines Einzelnen, sie sind der Ausdruck einer Stimmung Vieler, die das Leben – mindestens der Juden – nur vom grünen Tische aus ansehen. Der christlich-germanische Staat, der Arierstolz spielt seit alter Zeit eine Rolle in vielen wissenschaftlich gehaltenen Schriften. Ich brauche hier kaum an die noch lebenden Schriftsteller, Dichter und Komponisten zu erinnern, die ihren Schöpfungen Vorreden und Einzelschriften gegen die Juden beigaben, der Eine, weil ein jüdischer Tondichter pietätvoll die Manen seines Bruders durch eine Ouverture zu dessen Trauerspiel Struensee geehrt und damit dem gleichnamigen, später erstandenen Drama des Anklägers eine Konkurrenz bereitet, der Andere – nun das ist ja im „Judenthum in der Musik“ nachzulesen. Ein dritter Kulturschriftsteller findet dies und das an uns auszusetzen, ein vierter, auch ein Historiker und zwar ein namhafter, bezweifelt unsere politische Organisationsfähigkeit, dann kommen Aerzte, Männer der Wissenschaft mit mißliebigen Bemerkungen über jüdische Aerzte, Krankenpflege, Studirende. Wer sich die Mühe nehmen wollte, jahrein, jahraus alle die feindseligen Aeußerungen gegen Juden und Judenthum zusammenzustellen, wie sie in Schriften und zwar in wissenschaftlichen Werken, in Zeitschriften, von Gebildeten für gebildete Kreise, wie sie in Gesellschaften ausgesprochen worden – er würde sehr umfangreiche Schattenbilder zur Kulturgeschichte der Menschheit erlangen. Die Götterdämmerung der Humanität ist noch lange nicht gekommen. Die Jünger Lessings, Alexander von Humboldt’s, Schleiden’s sind dünn gesät – in den Kreisen der Gebildeten wurzelt noch viel Antipathie gegen uns. Der oftgenannte Historiker, der kürzlich noch ein umgekehrtes „Hep-Hep-Geschrei“ gehört haben will, hat, wie er selbst einräumt, schon ein Jahrzehnt – nämlich in seinen Vorlesungen – der Abneigung gegen jüdisches Wesen Ausdruck gegeben. Seine jüngsterschienenen drei Aufsätze sind für ihn keine Nova, nehmen von ihm nicht Wunder. Nur das gab ihnen Bedeutung und den Vorzug vielseitiger Widerlegung, daß man sie als den Ausdruck einer in gebildeten Kreisen herrschenden Stimmung ansehen mußte. Sie waren das Ventil, durch das die vorhandene Mißstimmung ausströmte.

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