GHDI logo

Das Religionsverständnis der Arbeiter (1890)

Seite 6 von 6    Druckfassung    zurück zur Liste vorheriges Dokument      nächstes Dokument


Das war die weitverbreitete Meinung in der Fabrik: die längst überholte, innerlich unwahre, in ihrem Leben tote Kirche ist heute nichts als ein sehr erwünschtes und kräftiges Polizeiinstitut des bestehenden Staates, der es eifrig und künstlich aufrecht erhält.

Endlich kamen wir am Schlusse unsers langen Gesprächs auch auf Darwin und die Lehre von der Abstammung des Menschen von den Affen. Der Handarbeiter und Monteur sind für sie, S. dagegen, H. sagt gar nichts dazu. S. meinte, das wäre unmöglich; denn wir hätten den Verstand, der uns durchaus von den Tieren, auch den Affen schiede.

Das ist ja richtig, entgegnete der Handarbeiter; aber trotzdem glaube ich daran. Was bleibt auch andres übrig? Denn das kann ich auf keinen Fall glauben, wie es in der Bibel steht, daß der Mensch aus Lehm gemacht ist.

Als wir dann auseinander gingen, blieb der Handarbeiter an meiner Seite und kam wieder auf das Sterben und das ewige Leben zurück, wie noch viele male, wenn wir beisammen waren. Er hatte vor einiger Zeit ein halberwachsenes Mädchen verloren. Nun quälte ihn die Sehnsucht nach ihr, sie wieder zu sehen. Er wollte immer wieder hören, was ich darüber dächte und glaubte. Und immer wieder, so oft ich ihm mein Innerstes ausgeschüttet, mein Bestes gegeben hatte, schüttelte er den Kopf und seufzte:

Ach wenn wir nur glauben könnten. Aber Gewißheit müßten wir haben, ganz feste Gewißheit.

Auch dieser Ärmste hatte kein Verständnis mehr für eine Gewißheit, die nicht auf Augenschein und Tastgefühl, Gehör und Geschmack beruht.

Ein andermal hatte mich ein Schlosser zu einem ältern Dreher geschickt, von ihm etwas zu holen.

Die Arbeit ist noch nicht fertig, wird es morgen erst, wenn mich nicht derweile der Teufel holt — war die barsche Antwort auf meine Anfrage.

Teufel giebts nicht, meinte sein Nachbar dazwischen.

Aber Sünde, setzte ich dazu.

Unsinn; das widerspricht sich, fuhr mich der erstere an. Wenn es keinen Teufel giebt, giebts auch keine Sünde. Übrigens, glauben Sie denn auch noch an das Zeug, das einem in der Schule weis gemacht wird?

Man hat eben, das ist ein neues scharfes Charakteristikum, durchgängig nicht das geringste Bewußtsein mehr von Schuld und Sünde. Auch diejenigen nicht, die religiös noch schwanken und ringen und eben mitten in jener Bildungskrisis stehn.



Quelle: Paul Göhre, Drei Monate Fabrikarbeiter und Handwerksbursche. Eine praktische Studie. Leipzig: Grunow, 1891, S. 164-72.

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite