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Der Einfluss der Leihbibliotheken auf den Romanabsatz (1884)

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Die Anklage gegen die Leihbibliothek ist erst laut geworden, seit unsere Productionsverhältnisse eine Wendung zum Schlimmen angenommen haben. Man bedenkt dabei nicht, daß die Umwälzungen auf dem Gebiete unserer socialen Verhältnisse eine einschneidende Einwirkung auf den Romanabsatz ausgeübt haben.

Heben wir nur zwei Momente heraus.

Oesterreich war früher das Eldorado für den deutschen Romanverleger. Bis zum Jahre 1848 zählte der oesterreichische Adel zu dem reichsten. Er saß im Sommer auf seinen Gütern, im Winter lebte er in der Hauptstadt, in der Nähe des Hofes. Wir fanden stets bei ihm ein lebhaftes Interesse für die Literatur, sahen ihn aber selten in der Leihbibliothek.

Nach Aufhebung der Robot* und des Zehnten verminderten sich aber seine Einkünfte in erheblicher Weise. Heute sieht man den Adel selten auf seinen Gütern, wo ihn früher die Einförmigkeit des Lebens zur Lectüre führte. Seine Güter befinden sich zum großen Theile in den Händen der Pächter, oder in denen der Geldaristokratie; er selbst befindet sich im Sommer auf Reisen, in den Bädern; im Winter auch weniger als früher in der Hauptstadt, weil auch der Aufenthalt des Hofes ein weniger beständiger geworden ist, durch die Zweitheilung des Reiches. Daß also der Adel nicht mehr wie früher seinen bleibenden Aufenthalt hat, daß seine Einkünfte sich vermindert, sind die Ursachen, die ihn der Leihbibliothek zuführten und dem regelmäßigen Bücherkaufe abwendeten.

Das zweite einschneidende Element war der Krach des Jahres 1873. Hier vollzog sich eine vollständige Besitzveränderung des Capitals. Der wohlhabende, reiche Bürger, der zu den besten Bücherkäufern gehörte, kam in die Lage, seine Neigung aufgeben zu müssen; seine Hausbibliotheken wanderten nach und nach zum Antiquar. In jenen Kreisen aber, zu welchen das Capital gewandert ist, finden wir allerdings vorzugsweise das lebhafteste Interesse für die Literatur, für Musik, Theater und Kunst, aber nicht jene Freude an einem Buche, die den Wunsch erzeugt, es zu besitzen.

Nur kennen will man Alles. Man besucht jede Kunstausstellung, fehlt bei keiner Première, keinem Concerte und durchfliegt nebenher jede neue literarische Erscheinung ohne Unterschied. Man lebt überall, nur nicht im stillen Heim des Hauses; wozu bedarf es denn da der Hausbibliothek? Es genügen einige Prachtwerke auf dem Tische der Salons und die Classiker in reichem Einbande im Bücherschranke. Das fieberhafte Streben aber, Alles zu kennen, wenn auch nur oberflächlich, führt naturgemäß zur Leihbibliothek, der jedoch diese Classe seit je angehörte.


* bäuerliche Fronarbeit.

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