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Arbeiterwohnungen in Chemnitz und Berlin (1890)

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b) Die zweite Reihe Schlafstellen befindet sich in den Wohnräumen der Familie selbst. Die bedenklichsten darunter, die mit der Familie in einem Raume gemeinsamen, sind nebst den durch die angeführte Verordnung untersagten heute wenn auch noch nicht ganz beseitigt, so doch selten. Wer in einem Alkoven (in der Stadt wird oft auch die Küche dazu benutzt) mit mehreren andern zusammenschläft, pflegt wöchentlich eine Mark zu zahlen; wer in einem leeren, d. h. nur mit einem Bette ausgestatteten Alkoven allein schläft, mindestens zwei Mark. Dann kommen die beiden besten, aber auch seltensten Kategorien: schlicht möblierte Stübchen mit zwei und drei Betten, die namentlich unter einander befreundete junge Schlosser aus bessern Familien für je zwei Mark die Woche gemeinsam bewohnen, und ebensolche mit einem Bette, die freilich wegen ihrer Kostspieligkeit (drei Mark für die Woche) weniger verlangt werden und bereits den Übergang zu den in studentischen Kreisen üblichen schlichten Garçonwohnungen bilden.

Die angeführten Wohnungspreise sind natürlich nur, aber ziemlich sichere, Durchschnittsangaben. Sie verstehen sich immer mit Morgenkaffee, häufig auch mit Abendkaffee. Sie sind nicht hoch; für den jungen Burschen, der meist eben so viel als ein verheirateter Mann verdient und für niemand zu sorgen hat, mit die geringste Ausgabe für notwendige Bedürfnisse. Dennoch kommt es nicht selten vor, daß einer mit dem Logisgeld durchbrennt. Der Chemnitzer Lokalanzeiger brachte fast täglich eine derartige Notiz, wobei zu bedenken ist, daß nur ein kleiner Teil der Fälle von den Betroffenen zur Anzeige gebracht wird. Dann pflegt man gewöhnlich eine verschlossene, aber leere, mit einigen Steinen beschwerte Kiste als Pfand zurückzulassen. Namentlich Arbeitslose manövrieren gern so. Sie spiegeln ihren neuen Wirtsleuten vor, daß sie Arbeit hätten, gehen des Morgens zur vorgeschriebenen Stunde weg, vertreiben sich den Tag teils auf der Herberge, teils mit Spaziergängen, teils mit Arbeitsuchen und kommen zur Feierabendzeit ins Quartier zurück. Wenns paßt, fliegt dann der Vogel einmal aus – auf Nimmerwiedersehen. Das ist dann immer eine herbe Einbuße für die Familie.



Quelle: Paul Göhre, Drei Monate Fabrikarbeiter und Handwerksbursche. Leipzig: Grunow, 1891, S. 20-26.

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