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Arbeiterwohnungen in Chemnitz und Berlin (1890)

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Das ärgste von Wohnungsnot aber, was ich erlebte, war bei einem andern Mann aus meiner Fabrik. Das war thatsächlich nicht mehr menschenwürdig. Der Mann war ein alter, langjähriger Arbeiter und hatte eine Maschine zu bedienen. Er war nicht mehr jung, knapp über die fünfzig, ein kleiner, biedrer, guter Kerl, mit dem ich mich besonders viel und gern unterhielt. Er hatte eine kränkliche, halbgelähmte, blutflüssige Frau, deren Lebens- und Liebesgeschichte er mir wie seine eigne in der ganzen Massivheit, wie sie sich unter diesen Leuten abspielt, und mit der ganzen naiven Offenheit und kameradschaftlichen Vertraulichkeit, wie sie da unten auch zwischen ältern und jüngern schnell entsteht, doch nicht ohne poetischen Schimmer ausführlich erzählte. Ihre Kinder waren bereits erwachsen und verheiratet; sie hatten nur eine von ihnen herzlich gepflegte Enkelin noch bei sich, dagegen fünf fremde Schlafleute! Dieses Mannes Wohnung nun bestand aus folgenden Gelassen: aus einer Stube, einem wirklichen Alkoven, einer einfenstrigen Kammer und einer Dachkammer. In der einfenstrigen Kammer standen zwei Betten, in deren einem ein Pferdebahnkutscher, und in deren anderm zwei böhmische Maurer nächtigten. Im Alkoven, in einem Bette für sich, schlief die kränkliche Frau allein; ihr Mann seit drei Jahren, seit seine Frau niemand mehr neben sich liegen haben konnte, auf dem Sofa derselben Wohnstube, die vom frühen Morgen bis nach zehn Uhr abends, das heißt für diese Leute bis tief in die Nacht und in die Schlafenszeit hinein, von sämtlichen schwatzenden, essenden, rauchenden Haushaltungsmitgliedern frequentiert wurde. Denn die beiden Maurer mußten schon früh ½5 Uhr weg und vorher noch ihren in eben dieser Stube gekochten Kaffee getrunken haben, und der Pferdebahnkutscher kam erst abends ½10 Uhr von seinem schweren Dienst zurück und wollte dann noch Abendbrot essen. Wo war da eine wirklich erquickende Nachtruhe für Mann und Frau möglich? Aber das Ärgste kommt noch. In der noch übrig bleibenden Bodenkammer standen ebenfalls zwei Betten: in dem einen schlief ein ganz junges Ehepaar, das hier zur Aftermiete wohnte, tagsüber auf Arbeit war und wohl nichts sein Eigen nannte, und in dem andern das zwölfjährige Mädchen, das Enkelkind. Man macht sich leicht ein Bild von dem, was dies Kind nächtlicherweile hören und erleben konnte, wie es überhaupt in diesem und ähnlichen Haushalten selbst bei dem besten Willen aller Bewohner zugehen mußte.

Kamen nun obendrein noch Verwandte oder Bekannte zu Besuch, so war ihre Beherbergung mit weitern großen, fast unglaublichen Einschränkungen verknüpft. Jenen letztgenannten Arbeiter, bei dem so jammervolle Wohnungszustände herrschten, besuchte einmal mit zwei ihrer Kinder seine nach Thüringen verheiratete Tochter, „eine Schlange, die ihre Eltern auszunutzen sucht," wie der Vater in einer mürrischen Stunde einmal meinte. Da schliefen auch diese beiden Kleinen noch bei den Großeltern, und zwar in der Dachkammer, mit der Zwölfjährigen zu dritt in einem Bette, während die Tochter bei Verwandten in der Nachbarschaft untergebracht war. Und alle solche Zustände herrschten unter einer Arbeiterschaft, die vorher als eine verhältnismäßig gutgestellte bezeichnet werden mußte!

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