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Friedrich Nietzsche verkündet „Gott ist tot!”: Die fröhliche Wissenschaft (1882)

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Kein Altruismus! – Ich sehe an vielen Menschen eine überschüssige Kraft und Lust, Funktion sein zu wollen; sie drängen sich dorthin und haben die feinste Witterung für alle jene Stellen, wo gerade sie Funktion sein können. Dahin gehören jene Frauen, die sich in die Funktion eines Mannes verwandeln, welche an ihm gerade schwach entwickelt ist, und dergestalt zu seinem Geldbeutel oder zu seiner Politik oder zu seiner Geselligkeit werden. Solche Wesen erhalten sich selber am besten, wenn sie sich in einen fremden Organismus einfügen; gelingt es ihnen nicht, so werden sie ärgerlich, gereizt und fressen sich selber auf.

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Das Leben kein Argument. – Wir haben uns eine Welt zurechtgemacht, in der wir leben können – mit der Annahme von Körpern, Linien, Flächen, Ursachen und Wirkungen, Bewegung und Ruhe, Gestalt und Inhalt: ohne diese Glaubensartikel hielte es jetzt keiner aus zu leben! Aber damit sind sie noch nichts Bewiesenes. Das Leben ist kein Argument; unter den Bedingungen des Lebens könnte der Irrtum sein.

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Die moralische Skepsis im Christentum. – Auch das Christentum hat einen großen Beitrag zur Aufklärung gegeben: es lehrte die moralische Skepsis – auf eine sehr eindringliche und wirksame Weise: anklagend, verbitternd, aber mit unermüdlicher Geduld und Feinheit; es vernichtete in jedem einzelnen Menschen den Glauben an seine »Tugenden«: es ließ für immer jene großen Tugendhaften von der Erde verschwinden, an denen das Altertum nicht arm war – jene populären Menschen, die im Glauben an ihre Vollendung mit der Würde eines Stiergefechts-Helden umherzogen. Wenn wir jetzt, erzogen in dieser christlichen Schule der Skepsis, die moralischen Bücher der Alten, zum Beispiel Senecas und Epiktets lesen, so fühlen wir eine kurzweilige Überlegenheit und sind voll geheimer Einblicke und Überblicke, es ist uns dabei zumute, als ob ein Kind vor einem alten Manne oder eine junge schöne Begeisterte vor La Rochefoucauld redete: wir kennen das, was Tugend ist, besser! Zuletzt haben wir aber diese selbe Skepsis auch auf alle religiösen Zustände und Vorgänge, wie Sünde, Reue, Gnade, Heiligung, angewendet und den Wurm so gut graben lassen, daß wir nun auch beim Lesen aller christlichen Bücher dasselbe Gefühl der feinen Überlegenheit und Einsicht haben – wir kennen auch die religiösen Gefühle besser! Und es ist Zeit, sie gut zu kennen und gut zu beschreiben, denn auch die Frommen des alten Glaubens sterben aus – retten wir ihr Abbild und ihren Typus wenigstens für die Erkenntnis!

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