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Richard Wagner, Was ist Deutsch? (1865/1878)

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Führen wir uns den äußerlichen Vorgang der geschichtlichen Dokumentation des deutschen Wesens in Kürze noch einmal deutlich vor. »Deutsche« Völker heißen diejenigen germanischen Stämme, welche auf heimischem Boden ihre Sprache und Sitte sich bewahrten. Selbst aus dem lieblichen Italien verlangt der Deutsche nach seiner Heimat zurück. Er verläßt deshalb den römischen Kaiser und hängt desto inniger und treuer an seinem heimischen Fürsten. In rauhen Wäldern, im langen Winter, am wärmenden Herdfeuer seines hoch in die Lüfte ragenden Burggemaches pflegte er lange Zeit Urvätererinnerungen, bildet seine heimischen Göttermythen in unerschöpflich mannigfaltige Sagen um. Er wehrt dem zu ihm dringenden Einflusse des Auslandes nicht; er liebt zu wandern und zu schauen; voll der fremden Eindrücke drängt es ihn aber, diese wiederzugeben; er kehrt deshalb in die Heimat zurück, weil er weiß, daß er nur hier verstanden wird: hier am heimischen Herde erzählt er, was er draußen sah und erlebte. Romanische, wälische, französische Sagen und Bücher übersetzt er sich, und während Romanen, Wälsche und Franzosen nichts von ihm wissen, sucht er eifrig sich Kenntnis von ihnen zu verschaffen. Er will aber nicht nur das Fremde als solches, als rein Fremdes, anstarren, sondern er will es »deutsch« verstehen. Er dichtet das fremde Gedicht deutsch nach, um seines Inhaltes innig bewußt zu werden. Er opfert hierbei von dem Fremden das Zufällige, Äußerliche, ihm Unverständliche, und gleicht diesen Verlust dadurch aus, daß er von seinem eigenen zufälligen, äußerlichen Wesen so viel darein gibt, als nötig ist, den fremden Gegenstand klar und unentstellt zu sehen. Mit diesen natürlichen Bestrebungen nähert er sich in seiner Darstellung der fremdartigen Abenteuer der Anschauung der reinmenschlichen Motive derselben. So wird von Deutschen »Parsifal« und »Tristan« wiedergedichtet; während die Originale heute zu Kuriosen von nur literargeschichtlicher Bedeutung geworden sind, erkennen wir in den deutschen Nachdichtungen poetische Werke von unvergänglichem Werte. –

In demselben Geiste trägt der Deutsche bürgerliche Einrichtungen des Auslandes auf die Heimat über. Im Schutze der Burg erweitert sich die Stadt der Bürger; die blühende Stadt reißt aber die Burg nicht nieder: die »freie Stadt« huldigt dem Fürsten: der gewerbtätige Bürger schmückt das Schloß des Stammherrn. Der Deutsche ist konservativ: sein Reichtum gestaltet sich aus dem Eigenen aller Zeiten; er spart und weiß alles Alte zu verwenden. Ihm liegt am Erhalten mehr als am Gewinnen: das gewonnene Neue hat ihm nur dann Wert, wenn es zum Schmucke des Alten dient. Er begehrt nichts von außen; aber er will im Innern unbehindert sein. Er erobert nicht, aber er läßt sich auch nicht angreifen. – Mit der Religion nimmt er es ernst: die Sittenverderbnis der römischen Kurie und ihr demoralisierender Einfluß auf den Klerus verdrießt ihn tief. Unter Religionsfreiheit versteht er nichts anderes als das Recht, mit dem Heiligsten es ernst und redlich meinen zu dürfen. Hier wird er empfindlich und disputiert mit der unklaren Leidenschaftlichkeit des aufgestachelten Freundes der Ruhe und Bequemlichkeit. Die Politik mischt sich hinein: Deutschland soll eine spanische Monarchie, das freie Reich unterdrückt, seine Fürsten sollen zu bloßen vornehmen Höflingen gemacht werden. Kein Volk hat sich gegen Eingriffe in seine innere Freiheit, sein eigenes Wesen, gewehrt wie die Deutschen: mit nichts ist die Hartnäckigkeit zu vergleichen, mit welcher der Deutsche seinen völligen Ruin der Fügsamkeit unter ihm fremde Zumutungen vorzog. Dies ist wichtig. Der Ausgang des dreißigjährigen Krieges vernichtete das deutsche Volk: daß ein deutsches Volk wieder erstehen konnte, verdankt es aber doch einzig eben diesem Ausgange. Das Volk war vernichtet, aber der deutsche Geist hatte bestanden. Es ist das Wesen des Geistes, den man in einzelnen hochbegabten Menschen »Genie« nennt, sich auf den weltlichen Vorteil nicht zu verstehen. Was bei anderen Völkern endlich zur Übereinkunft, zur praktischen Sicherung des Vorteiles durch Fügsamkeit führte, das konnte den Deutschen nicht bestimmen: zur Zeit, als Richelieu die Franzosen die Gesetze des politischen Vorteiles anzunehmen zwang, vollzog das deutsche Volk seinen Untergang; aber, was den Gesetzen dieses Vorteils sich nie unterziehen konnte, lebte fort und gebar sein Volk von Neuem: der deutsche Geist.

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