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Ferdinand Avenarius über die schönen Künste: Erstausgabe von Der Kunstwart (1. Oktober 1887)

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Von jenen äußeren, stofflichen Merkmalen der Gattung zeigt uns jedoch schon unsere Lyrik einige, die durch alle Dichtungsarten zu verfolgen sind. Wir finden schon hier, daß, was sich der besonderen Gunst des Publikums erfreut, weit weniger das aus der Tiefe heraufgeborene Ursprüngliche ist, als eine, wenn wir so sagen dürfen, „Rezeptpoesie“, die nach im Volke beliebten Vorbildern neue Nachbildungen gestaltet. Sehr in der Pflege war längere Zeit die antiquarische Lyrik und lyrische Epik. Sehr in der Pflege auch, wenngleich nie annähernd populär geworden, die meist in antiken Versmaßen sich bewegende Lyrik des Weltschmerzes. Wirklich originale Schöpfungen gelangen nur wenigen Lyrikern, die dann, wie Keller und Storm, oft erst nach Jahrzehnten einen kleinen Kreis von Verstehenden sich gewannen. Auch ihre Lyrik aber ist zumeist eine ruhige Selbstschau über eine ruhige Seele. Der Umstand, daß fast alle unsere Gelegenheitsdichtungen auch da, wo sie den mächtigsten „Gelegenheiten“ ihre Anregung verdanken, in Rhetorik verfallen, er zeugt davon, daß die großen Bewegungen unserer Zeit wohl dem Verstande und Empfinden unserer Dichter genaht sind, daß sie aber noch nicht ihr inneres Schauen, ihre Phantasie so wie bei anderen hochstehenden Völkern beherrschen. Noch immer fühlt sich gar mancher Poet in Deutschland, ob er es sich selber gestehen oder verbergen mag, lieber als Weltflüchtling, denn als Mitbildner seiner Zeit. Ganz verwandte Erscheinungen zeigt unsere Epik. Auch in ihr war die antiquarische Gattung beliebt, besonders in den archaischen Romanen, deren Verfasser nicht nur durch ihre Stoffwahl, sondern auch durch die altertümelnde Art ihrer Darstellungen ausnahmsweise ein Gemeinsames zeigten, das sie von ihren Vorgängern unterschied. Eine Blütenperiode dürfte in der Gegenwart der deutschen Novelle beschieden sein, die eine Reihe höchst feingeistiger Männer auf eine nie vorher erreichte und kaum noch zu steigernde Höhe gebracht haben. Schließt es bei ihr die enge Kunstform fast aus, daß mehr als ein schönes Spiel des fabulierenden Geistes geboten werde, so wäre dieses beim großen modernen Romane nicht der Fall. Aber auch in ihm begegnen wir noch selten dem Verlangen, die Lebensadern unserer Kultur selber durch organische Gebilde pulsen zu fühlen. Mit wenigen Ausnahmen stellt unsere Romandichtung eine Neubelebung früherer litterarischer Strebungen dar, so daß wir je nach Liebhaberei, Geschmack und Bildungsgang der Einzelnen immer wieder Akademiker und Rationalisten, Stürmer und Dränger, Jungdeutsche und Romantiker, Phantasten und Pseudorealisten und schließlich die seltsamsten Mischungen vom Einen und Anderen beisammen vor uns haben. Einige Blicke auf unser Drama würden mutatis mutandis. denselben Eindruck erzeugen. Es ist unter solchen Verhältnissen nicht zum Verwundern, daß viele unserer Gebildeten bei Franzosen, Skandinaviern und selbst Russen zu finden suchen, was wir ihnen noch nicht geben können.

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