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Ferdinand Avenarius über die schönen Künste: Erstausgabe von Der Kunstwart (1. Oktober 1887)

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Für die Malerei ersetzten in unserem Jahrhundert die mangelnden Vorbilder der Antike jene Werke der Italiener, von deren mannigfach wechselnder Nachahmung noch heute unsere Kirchenmalerei Zeugnis giebt. Im Übrigen sind die Ideale wesentlich andere geworden. Es war der Einfluß dessen, was man als „Antike“ verstand, verbunden mit dem Hinsterben des Farbensinnes, der mit den blassen Tönungen des Rococo versickert war, daß man auch hier nur in der Form das Heil erkannte und die Farbe mißachtete. Heute hat sich das Verhältnis umgekehrt. Cornelius wie die ganze Reihe der Kartonzeichner sind von der Gegenwart weit getrennt: einseitig wie man sie früher überschätzte, so unterschätzt man sie heute vielleicht, wenn man über den Mängeln ihrer Pinsel- und Kreideführung die Durchgeistigung ihrer Stoffe vergißt, die wenigstens den Ursprünglichsten unter ihnen gelang und eben auch zum „Wie“ der Kunst gehört. Paris und Belgien mit ihren Koloristen gaben den Anstoß zur Wiederkehr der Farbe in die Bilderwelt, wie sie dann in Münchens Pilotyschule aufleuchtete. Aber auch diese Koloristik stirbt dahin: der „goldige Ton“ ist nicht mehr der gepriesenste Vorzug unserer Gemälde. Konventionell, wie die vorausgegangene, war im Grunde auch diese Richtung gewesen. Nun ist die Palette Pilotys als „Sauce“ verschrieen und auch Makarts so bewunderter Kolorismus wird skeptisch betrachtet. Die Freude an Klarheit der Farbe, wie die Natur dem Unvoreingenommenen sie zeigt, steht im Mittelpunkt der Bewegung, die immer weitere Kreise umzieht: der aus Paris entstammenden „Freien-Luft-Malerei“. Es ist nicht zu leugnen, daß die junge Genossenschaft noch oft die Fehler ihrer Tugenden für ihre Tugenden selber hält, nicht zu leugnen, daß sie durch Uebertreibung einer gesunden Reaktion gegen den Manierismus der Schönheit häufig genug dem Manierismus der Häßlichkeit verfällt. Und es ist nicht zu leugnen, daß andererseits die junge Malerschule in der Freunde, die Gegenstände wiedergeben zu können, wie sie sind, zeitweise dem Irrtum verfällt, damit sei es gethan. Dem, der sehen will, erschließen sich trotzdem schon nach allen Seiten Ausblicke in das Zukunftsland jener Kunst, die nach vollständiger Überwindung der technischen Schwierigkeiten häufiger und häufiger auch ein seelisch Bedeutendes erzeugen wird. Nicht als eine Malerei von Gedanken, sondern als eine solche von Anschauungen, nicht als Kunst des Verstandes, sondern als Kunst der Phantasie.

Ein wunderbar schnelles Wachsen, Grünen und Blühen war in den beiden letzten Jahrhunderten der Musik beschieden. Blicken wir auf die Zeit vor Bach und Händel zurück, — eine Zeit, deren musikalische Schöpfungen uns innerlich vollständig fremd geworden — und von ihr auf die Gegenwart, so drängt sich uns die Überzeugung auf, daß wohl neben der staunenerregenden Entfaltung der griechischen Plastik des Altertums und der Malerei der Renaissance kaum ein viertes Beispiel gleich schneller Entfaltung einer bisher nur knospenden Kunst zu dem dritten unserer Musik sich bietet. Deshalb brauchen wir nicht zu behaupten, daß es in ihr von Künstler zu Künstler stets vorwärts ging, daß Seiten- und vielleicht auch Rückschritte fehlten, wie ja die Blütengeschichte auch jener Künste sie aufzeigt. Die Stimmungen, Leidenschaften, die Empfindungen überhaupt, geläutert, d. h. von den Beimischungen des Zufalls losgelöst, vor uns walten zu lassen, uns solcher Weise von den Banden der Wirklichkeit zum verdichteten Genusse unseres Selbst in einer Welt der Wahrheit zu befreien: das ist der Tonkunst unseres Jahrhunderts doch wohl noch mehr gelungen, als der jeder vorangehenden Epoche.

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