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Ferdinand Avenarius über die schönen Künste: Erstausgabe von Der Kunstwart (1. Oktober 1887)

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Das zeigt am deutlichsten ein Blick auf das Gebiet des wiedererstandenen Kunsthandwerks. Wär’ unser Phantasieleben kräftiger, es würde uns noch öfter gelingen, das innere Wesen irgend eines gewerblichen Erzeugnisses unserer Zeit in der Erscheinung desselben auszuprägen, als es in der That uns gelingt, und seltener würden wir entweder zur Anleihe bei anderen Zwecken dienenden Erzeugnissen der Vergangenheit oder zur rein äußerlichen und deshalb gleichfalls nicht kennzeichnenden Verzierung greifen. Bis vor kurzem noch war ein Gerät, dessen Form in Wahrheit sein Wesen, seine Gebrauchsbestimmung, unverkennbar ausdrückte, auf manchen Gebieten des Kunsthandwerks die Ausnahme und nicht die Regel. Erst in den letzteren Jahren hat man sich darauf besonnen, daß Stoff, Zweck und Form sich gegenseitig bedingen, und bemüht sich nun mit immer geübterer Phantasie, diese Wechselwirkung zum sichtbaren Ausdruck zu bringen.

Zu einer wahrhaft gesunden, keimtragende Früchte verheißenden Blüte des Kunstgewerbes auf allen seinen Gebieten dürften wir freilich noch nicht gelangt sein. Es gehörte dazu, daß sich alle hier schaffenden Kräfte in einer Formensprache äußern, vertiefen, fördern könnten: in einer Formensprache, die hier doch wohl so notwendig ist, wie die eine gemeinsame Wortsprache in der Dichtung eines Landes, wenngleich nicht entfernt in ihrer Wichtigkeit so anerkannt, wie diese in der ihren. Ein jeder Stil wächst, altert und stirbt; wir aber haben keinen Stil, der aus unserem Wesen erwachsen wäre, und vertiefen uns deshalb auf dem Wege der Anempfindung in die Ausdrucksweisen vergangener Geschlechter. Auch ein angenommenes Kind kann mit unserem Fühlen verwachsen, kann unser Fühlen weiterbilden, konnten wir es nur in langem Beisammensein erziehen. Auch durch jene Anempfindung könnten wir so gut zu einem Eigenen gelangen, wie die deutsche Gothik durch das Anempfinden der italienischen Renaissance zur deutschen gelangte. Unser Unglück aber ist das ruhelose Wechseln von Stil zu Stil. Durch wissenschaftliche Anregung war das wiedererstehende Kunsthandwerk auf die Formen der Renaissance gewiesen, an denen Wien am festesten hielt, die München mit Betonung des deutsch Nationalen pflegte und die ebenso, wenn auch trockener und mit ärmerer Phantasie, von Berlin aufgenommen wurden. Aus der Renaissance begann man bald genug dem Barock zuzutreiben, dem schließlich wiederum das Rococo folgte. Und so suchte man, sehr zum Nachteil der kaum mit der Renaissance vertraut gewordenen Arbeiter und nicht minder zum Nachteil des Publikums, das aus dem eben begonnenen Einleben in eine bestimmte Ausdrucksweise gerissen wurde, eine immer wieder andere Formensprache zu erlernen. Es ist klar, daß damit die Herausbildung einer eigenen durch die Verschmelzung der fremden mit dem Empfindungsinhalt unseres Volkes und unserer Zeit — stets aufs neue in die Ferne gerückt ward.

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