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Paul de Lagarde über Liberalismus, Bildung und die Juden: Deutsche Schriften (1886)

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Niemand vermag sich dem Einflusse eines in völligem Ernste von allen Seiten auf ihn eindringenden Lebens zu entziehen. Sind die Juden in Deutschland zur Zeit noch ein fremder Körper, so beweist dieser Umstand, daß das Leben Deutschlands nicht energisch und nicht ernst genug ist: dann hat aber die Nation die Pflicht, diesem sehr erheblichen Mangel abzuhelfen. Jeder uns lästige Jude ist ein schwerer Vorwurf gegen die Echtheit und Wahrhaftigkeit unsres Deutschthums. Allerdings kann die Nation nicht energisch und ernst sich selbst leben – dies sich selbst verstehe ich sowohl als Accusativ wie als Dativ –, wenn die Regierungen ihr nicht den Ballast vom Halse und von der Seele nehmen, mit welchem wohlmeinender, aber sehr einfältiger Liberalismus sie drückt – das preußische Unterrichtswesen und das Staatskirchenthum sind mit die schlimmsten Stücke dieses Liberalismus –: unsre Juden aber werden auch selbst dann, wann jener Ballast abgethan sein wird, nicht aufhören Juden zu sein, wenn unsre Regierungen nicht außer jenem Liberalismus auch die grauenhafte Schuldenmacherei in Staat und Gemeinden abstellen, auf deren Procenten das Judenthum seine materielle Existenz mühelos und verächtlich begründet hat: die Juden bleiben Juden, weil wir zu gebildet sind, sie bleiben Juden nicht allein durch unsre Schuld, sondern auch durch unsre Schulden. Die Beantwortung der deutschen Judenfrage wird vorbereitet werden nicht durch die Ministerien der Justiz und des Innern, sondern durch die des Kultus – man verstehe mich wohl: ich sage nicht, des Unterrichts – und der Finanzen: sie wird zu Ende geführt werden nur durch das deutsche Volk, in welchem dasselbe heiße, das fremde Eis schmelzende Leben auch im Frieden pulsieren muß, welches im letzten Kriege selbst die unter uns wohnenden Palaestinenser dienstpflichtigen Alters in die Bahn deutschen Empfindens und deutschen Handelns zu unsrer großen Genugthuung hineingerissen hat.

Nur Antiliberale sind wirkliche Judenfreunde, wie nur Antiliberale wirkliche Freunde Deutschlands sind. Juden und Liberale sind naturgemäß Bundesgenossen, denn jene wie diese sind nicht Naturen, sondern Kunstprodukte. Wer nicht will, daß das deutsche Reich der Tummelplatz der Homunculi werde, der muß gegen Juden und Liberale – dies Wort in dem oben angegebenen Sinne genommen – Front machen.

Ich fasse zusammen: Das höchste Lob, welches des deutsche Volk ertheilt, ist das der Echtheit. Urtheile man, wie dies Volk über diejenigen denken muß, welche sich ihm als die Gebildeten gegenüberstellen: urtheile man, mit welchen Gefühlen es unsre Zustände in Staat, Schule und Kirche betrachten wird: mache man sich klar, wie Deutsch den Deutschen das neue Reich vorkommt.

Zur Echtheit können wir uns nicht allein verhelfen: die Regierungen müssen dadurch das Ihre für uns thun, daß sie geflissentlich alles künstlich Gemachte fortschaffen, und daß sie mit dem sicheren Blicke sachverständiger Liebe das Wachsen dessen befördern, was aus dem von Schutt gereinigten alten Boden emporkeimen wird: noch sind die Wurzeln unsres Wesens lebendig.



Quelle: Paul de Lagarde, „Die graue Internationale“ (Februar 1881) in Deutsche Schriften. Gesamtausgabe letzter Hand. Göttingen: Dieterichsche Verlagsbuchhandlung, 1886, S. 399-414.

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