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Paul de Lagarde über Liberalismus, Bildung und die Juden: Deutsche Schriften (1886)

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Wenn man es für denkbar erachtet, sich durch Anlernung gewisser Redensarten und durch Kenntnisnahme von bestimmten Thatsachen zu bilden, dann ist es natürlich gleichgültig, ob der so gebildete Mensch als Rohmaterial aus einem Rationalistenhause Preußens oder aus einer Talmudistenfamilie des russischen Polens hervorgegangen ist. Das Evangelium stellt aber an den Menschen nicht die Forderung gebildet zu sein, sondern die andere, sehr viel gewichtigere, aufs Neue geboren zu werden: ich habe schon früher darauf hingewiesen, daß Jesus zum Judenthume sich verhält wie Copernicus zu Ptolemaeus, daß er auf das Verlangen nach der Wiedergeburt eben durch das Judenthum gekommen sein wird, dessen inhaltlose, hölzerne Tautologie ihm vermuthlich dadurch nicht wirklich überwunden werden zu können schien, daß man ihr wie einem Mannequin irgend welche Gewänder überhienge. Die beiden Feinde Graetz und Geiger sind darin einig, den Pharisäismus als die höchste Blüthe anzusehen, deren ihre Nation fähig ist: Jesu Wort bei Matthaeus 23, 27 übt, wie an den Pharisäern, so an den modernen Bildungsschwindlern die schneidende Kritik, welche man von dem Urheber des bei Johannes 3, 3 verzeichneten Ausspruches erwarten durfte.

Nun befinden sich die Juden vor jener Forderung Jesu und der gesammten christlichen Kirche – ich meine, daß auch Socinianer, Unitarier und Protestanten neuesten Schlages sich ihr zu unterwerfen nicht anstehn werden – sie befinden sich vor dieser Forderung in einer sehr viel ungünstigeren Lage als alles Uebrige, was vom Weibe geboren wird. Der natürliche Mensch ist dem geistigen Leben gegenüber zunächst nur indolent, der Semit, vor allem der Jude, ist ihm gegenüber von Hause aus feindlich. Gerade darum ist dies der Fall, weil aus hier nicht zu nennenden Ursachen das Evangelium zunächst den Semiten, näher den Juden, gepredigt worden ist. Wer wie Israel, und durch Israel und den Koran Arabien, ein gewisses Maß geistigen Lebens schon vor dem Evangelium besessen hat, der kann dem Evangelium gegenüber nicht gleichgültig sein: er wird durch dessen Verkündigung entweder sehr viel besser oder aber sehr viel schlechter als er war. Das ist der tiefste Grund der Erfolglosigkeit, welche christlicher Mission gerade Muhammedanern und Juden gegenüber eigenthümlich ist: Juden und Muhammedaner sind nicht so nahe unter dem Nullpunkte, wie andere nicht wiedergeborene Menschen, sondern gerade in Folge ihrer einst vorhandenen Beziehungen zur Wahrheit ganz erheblich tiefer in der Minus-Scala als alle Andern: sie sind nicht, wie andre Menschen, krank, sondern verhärtet. Es gibt Menschen und Völker, denen Jesus, wie er selbst es gesagt hat, zum Gerichte gekommen ist.

Schon oft habe ich auseinandergesetzt, daß jede Religion, so lange sie lebt, behaupten muß die allein wahre zu sein. Danach würde ich auch dem Judenthume Intoleranz nachsehen, aber doch nur dem Judenthume, welches Religion wäre. Allein ein solches Judenthum kenne ich seit fast zwei Jahrtausenden nicht als officielle Synagoge, ich kenne solches Judenthum stets nur als die Religion Einzelner, deren Dasein niemand bestreiten darf, der sich erinnert, daß auch Jesus ein Jude war, und daß nach Jesu Wort der Geist wo er will wehet. Dadurch daß die Kirche die Aufgabe in die Hände nahm, welche die späteren Propheten ihrem Volke gestellt, und welche dies Volk nicht hatte lösen können, dadurch daß die Kirche diese Aufgaben ebenso vertiefte und vergeistigte, wie die Platoniker des Pentateuchs plumpsinnliche Erzählung von der Gottbildlichkeit des Menschen vertieft und vergeistigt hatten, und dadurch, daß Israel nicht Wort haben wollte, daß es mit Recht das Heft aus den Händen habe geben müssen, dadurch ist Israel so tief gesunken, nur die Herrschaft über alle Völker als sein Ideal anzusehen, nicht aber die Herrschaft als die von selbst kommende Folge des Segens zu erwarten, welchen es der Erde gebracht hätte. Das nachchristliche Israel verhält sich zu der geschichtlichen Entwickelung, wie der neue Schelling zu Hegel, wie Beust und Harry Arnim zu Bismarck, das heißt, es ist ein impotenter Neider und Kläffer.

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