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Paul de Lagarde über Liberalismus, Bildung und die Juden: Deutsche Schriften (1886)

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Daraus ist weiter die antichristliche und irreligiöse Färbung der deutschen Gelehrsamkeit entsprungen. Wer eine Weltanschauung sein nennt, besitzt sie entweder als ein Geschenk der Religion seiner Kindheit, oder als einen Erwerb der harten Kämpfe, welche er als Mann um einen neuen Glauben geführt hat. Jede Weltanschauung ist religiös, weil die Welt nur als ein durch eine überwaltende Natur oder einen höchsten, klarsten, reinsten Willen Gesetztes und Zusammengefaßtes ein Ganzes ist: jede religiöse Anschauung erhebt den Anspruch die ausschließlich richtige und genügende, oder aber eine unbedingt richtige und wichtige Seite eines noch nicht bekannten Ganzen zu sein. Daher hat jeder Streit der nicht der Reactionspartei angehörenden Nicht-Liberalen wider die Liberalen die Wärme eines Kreuzzuges, eben darum jeder Streit der Liberalen gegen jene die höhnische Kälte und den bigotten Haß des Unglaubens. Die heut zu Tage im Mannesalter stehenden Gelehrten werden nicht leugnen, daß ihnen jedem nicht liberal gesinnten Gelehrten gegenüber, und wäre derselbe der freidenkendste, wohlwollendste, tüchtigste Mensch, in voller Seele unbehaglich zu Muthe wird: jede Gesammtanschauung schmeckt ihnen nach dem Mittelalter. Sie mögen in der Theorie dem Christenthume und der Religion noch so viel Gerechtigkeit widerfahren lassen, im Herzen sind sie Heiden, und sogar froh darüber, Heiden zu sein. Das ist aber ein Rückschritt: man hat das Recht über das Christenthum hinauszugehn, aber nicht das Recht hinter ihm zurückzubleiben.

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Der Sachverhalt wird noch deutlicher, wenn wir auf die neben uns wohnenden Juden blicken. Es ist bekannt, daß dieselben sich in großer Zahl und mit vielem Eifer die moderne Bildung anzueignen bemühen: der Erfolg ihrer Bemühungen ist nicht der gewesen, sie über sich hinauszuheben: mit ehrenwerthen Ausnahmen, welche die Regel nur bestätigen, sind sie trotz aller Bildung Juden geblieben: unser aus so verschiedenen Elementen zusammengewachsenes, in keiner Weise unduldsames Volk sieht sie noch heute trotz aller ihrer Bildung als Fremde an.

Was nützte uns das preußische Unterrichtswesen? sind unsre Zustände trotz seiner da? was nützte uns Falks Kulturexamen? sind die ihm unterworfen gewesenen jungen Geistlichen auch nur um eines Haares Breite besser als ihre Vorgänger, welche sich nach der Schulzeit keine frische Ladung Kultur in die Schädel gepackt haben?

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