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Die Beschreibung der antisemitischen Verfolgung und der „Kristallnacht” sowie ihrer Folgen in der Region Stuttgart durch den amerikanischen Konsul Samuel Honaker (12. November und 15. November 1938)

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II. Brief an George S. Messersmith, Außenministerium, Washington, DC


Amerikanisches Konsulat
Stuttgart, Deutschland, 15. November 1938


The Honorable George S. Messersmith
Assistant to the Secretary of State
Washington, DC


Sehr geehrter Herr Messersmith,

da ich Ihre lebhafte Anteilnahme an deutschen Fragen kenne, denke ich, dass Sie an einem Bericht aus erster Hand über die Repressalien der vergangenen Tage gegen Juden in diesem Teil Deutschlands interessiert sind. Ich lege deshalb zur sofortigen Kenntnisnahme eine Kopie meines Berichts Nr. 307 vom 12. November 1938 mit dem Titel „Antisemitische Verfolgung im Stuttgarter Konsularbezirk“ bei. Nach sorgfältiger Recherche und persönlicher Erfahrung wurde dieser Bericht in großer Eile abgefasst, um die Botschaft in Berlin möglichst rasch zu informieren. Sie mögen zusätzliche Erkenntnisse zu diesem Thema wünschen.

Von allen Orten in diesem Teil Deutschlands wurden die Juden von Rastatt in der Nähe von Baden-Baden der unbarmherzigsten Behandlung unterzogen. Viele Juden in diesem Teil erlitten grausame Schläge und Übergriffe, und ihre Wohnungseinrichtung wurde fast vollkommen zerstört. Praktisch alle männlichen Juden dieser Stadt wurden festgenommen und entweder ins Gefängnis oder Konzentrationslager gebracht. Jene, die der Verhaftung entkamen, verstecken sich in den Wäldern oder sind bei Freunden untergekommen. Ähnlich ging es an anderen Orten zu, und gewiss gibt es viele Übergriffe, von denen ich noch nichts gehört habe.

Selbst die Leiter karitativer jüdischer Einrichtungen wurden ernsthaft belästigt, obwohl es den Behörden bewusst gewesen sein musste, dass eben solche Juden den Bedrängten helfen hätten können, hätte man ihnen ihre Freiheit und ihr Geld gelassen, das aber unverzüglich beschlagnahmt wurde. Unterdessen haben sich arische Ärzte in Stuttgart geweigert, Juden, die ihrer Hilfe dringend benötigen, medizinischen Beistand zu leisten, solange der Beweis nicht erbracht ist, dass kein jüdischer Arzt zur Verfügung steht. Ein alter Jude aus Bad Cannstatt, einem Vorort von Stuttgart, erlitt am Freitag (11. November) einen Herzinfarkt, und als ein Familienmitglied einen bekannten Herzspezialisten in Stuttgart anrief, soll dieser geantwortet haben: „Solange es noch einen jüdischen Arzt in Freiheit gibt, kann ich nicht kommen.“ So weit ich in Erfahrung bringen konnte, wurden mit Ausnahme von Dr. Einstein, einem über 65 Jahre alten Kinderspezialisten, trotz des überwältigenden Bedarfs an medizinischer Hilfe in der Folge des brutalen und allem Anschein nach von den deutschen Behörden angeregten Vorgehens alle jüdischen Ärzte in Gewahrsam genommen.

Alle jüdischen Automobile werden systematisch konfisziert. In der Regel besuchen zwei Männer in Zivil mit Polizeivollmacht die Häuser jüdischer Automobilbesitzer und verlangen die Schlüssel zu deren Garagen und Wagen. Auf Verlangen stellen sie für gewöhnlich auch Empfangsbestätigungen für die Autos aus, die mit „von der Kriminalpolizei“ unterzeichnet werden.

Einige Arier wurden festgenommen, weil sie ihrer Abscheu vor den Ereignissen der vergangenen Tage allzu offen Ausdruck verliehen hatten. Viele Personen, die insgeheim mit den Juden sympathisieren oder die unbarmherzige Behandlung hilfloser Menschen missbilligen, haben zunehmend Angst, ihre Meinung zu äußern. Ich habe jedoch von vielen Fällen gehört, in denen Arier in Mitleidenschaft gezogenen jüdischen Familien im Geheimen helfen und sie sogar mit Geld und Lebensmitteln versorgen.

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