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Lily Offenbacher teilt dem U.S. „Coordinator of Information” ihr Wissen über das „Euthanasieprogramm” mit (September 1941)

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Wie erwähnt, habe ich schlüssige Beweise für den sogenannten „Gnadentod“. Im Juli 1940 kursierten die ersten Gerüchte, dass geisteskranke jüdische Personen nicht mehr von Irrenanstalten aufgenommen wurden. Die Verwandten von Patienten, die sich bereits in einer solchen Einrichtung befanden, konnten den Aufenthaltsort dieser Patienten nicht in Erfahrung bringen. Die einzige Antwort auf wiederholtes Nachfragen war, dass alle Patienten nach Eggelfing geschickt wurden, eine Anstalt für Geistesgestörte, oder nach Linz, wo sich eine andere Einrichtung ähnlicher Art befindet. Wegen des in den vergangenen Jahren in Deutschland herrschenden Drucks mussten viele Familien Verwandte in Irrenanstalten unterbringen. Deshalb wurde das Schicksal dieser Menschen überall diskutiert. Einem Gerücht zufolge waren sie alle nach Polen gebracht worden. Alle hielten eine solche Entwurzelung von Patienten, deren einziger Trost eine gewisse Routine und ein geregelter Tagesablauf ist, für äußerst grausam. Ich interessierte mich sehr für das Schicksal dieser Patienten und versuchte, nähere Einzelheiten zu erfahren. Ich besuchte eine Freundin, die Patientin in einem Privatsanatorium war. Sie war weder nervös noch neurotisch, bloß sehr empfindlich, und lebte schon seit mehreren Jahren in diesem privaten Sanatorium, wo man gut für sie sorgte. Sie war sehr beunruhigt und erzählte mir, dass ein geisteskranker jüdischer Mann in einem Autobus weggebracht worden war. Man sagte ihnen, dieser Mann sei nach Eggelfing gekommen. Der Mann, der den Patienten abgeholt hatte, hatte mit niemandem gesprochen und auf alle einen höchst unangenehmen Eindruck gemacht. Der Patient hatte seit Jahren in dem Sanatorium gelebt und war sehr beliebt. Sein Lieblingsausspruch war: „Ich bin nicht arisch, aber trotzdem blöd“. Wegen seiner Beliebtheit versuchten seine Pfleger und Pflegerinnen, ihn an ihrem freien Tag in Eggelfing zu besuchen. Sie wurden nicht zu ihm vorgelassen und wirkten bei ihrer Rückkehr sehr besorgt. Meine Freundin sagte mir, dass er der einzige Patient war, der auf diese Weise verschwunden war, während alle anderen jüdischen Patienten vier bis sechs Wochen vor Eintreffen des Busses, der sie abholen sollte, entlassen worden waren. Der Chefarzt ist als begeisterter Nazi bekannt. Es ist deshalb sehr wahrscheinlich, dass er wusste, was bevorstand, und seine Patienten retten wollte, wahrscheinlich in erster Linie, um sie sich als zahlende Gäste zu erhalten. Mehrere Personen versuchten herauszufinden, was mit Patienten geschehen war, die sie in die Obhut privater Sanatorien gegeben hatten. In einem Fall erhielt ein Arier, der sich nach einer jüdischen Verwandten erkundigte, einen Brief von der Oberin des Privatsanatoriums, in dem sie ihm mitteilte, seine Verwandte sei auf Anordnung der Regierung weggebracht worden. Sie konnte ihm nichts anderes sagen, wollte aber für die Patientin, die sie sehr gern gehabt hatte, beten. Eines Tages im Juli oder August 1940 erhielt er die Sterbeurkunde seiner Verwandten, zusammen mit einer Urne mit ihrer Asche. Es war ihm nicht möglich, irgendetwas über die Todesursache in Erfahrung zu bringen. Die Oberin des Sanatoriums wusste nichts außer der Tatsache, dass die Patientin abgeholt wurde und man dann die Urne erhielt. Mehrere meiner Freunde machten ähnliche Erfahrungen. Zuerst hörten wir nur vom Verschwinden der jüdischen Geisteskranken, aber ab Mitte September 1940 erhielten meine arischen Freunde ähnliche Nachrichten über ihre Verwandten. Diese Arier gehörten mehrheitlich den ärmeren Schichten an. Üblicherweise musste der Staat für die Kosten ihrer Unterbringung im Irrenhaus aufkommen. Ich habe auch von einem zahlenden arischen Patienten gehört, der auf dieselbe Weise verschwand, das scheint aber eine Ausnahme gewesen zu sein. Niemand konnte sich vorstellen, warum diese Personen ums Leben kamen, da es keine Nahrungsmittelknappheit gab. Im Februar 1941 habe ich von einem schlimmen Fall von Unterernährung in einem Irrenhaus gehört, der zum Tode führte, aber es handelte sich um einen Einzelfall. Normalerweise gab es genug zu essen. Man musste deshalb davon ausgehen, dass der Grund für die Tötungen militärischer Natur war. Alle schienen zu glauben, dass sie in Experimenten getötet wurden, in denen sie als Versuchskaninchen dienten, um die Wirkung von Giftgas zu testen. Diese Gerüchte wurden durch die Krankenschwestern und Ärzte der Anstalt bestätigt, die alle dieselbe Geschichte erzählten; man habe ihnen die Kleidung, in der die Patienten weggebracht wurden, verkehrt übergeben, also Unterhemd oder Hemd außen, Mantel oder Kleid innen, so als ob diese Kleider der Person in Eile über dem Kopf ausgezogen worden seien. Alle Kleidungsstücke hatten einen sehr unangenehmen süßlichen Gasgeruch. Was mich am meisten schockierte war, dass Menschen, die keine Verbindung zu den Opfern hatten, nicht spürten, wie grässlich unmenschlich dieser Vorgang war. Ganz nette Leute, mit denen ich sprach, hielten es für ganz vernünftig, den Staat zu entlasten und gleichzeitig wertvolle Informationen darüber zu erhalten, wie man den Krieg gewinnen könne. Erst als ich ihnen über besonders grausame Einzelfälle erzählte, schienen sie zu begreifen, dass etwas Unmenschliches geschehen war.

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