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Benedikt Kautskys Beschreibung der Konzentrationslagerhierarchie (Rückblick, 1961)

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Der Mittelstand

Unter der Prominenz lebte eine ziemlich breite Schicht, die wir als Mittelstand bezeichnen können. Das waren die Stubendienstler, die Vorarbeiter, die Arbeiter der Werkstätten und die kleineren Schreiber und Funktionäre der Dienststellen, die Pfleger, Schreiber und sonstigen Funktionäre im Revier; aber auch «kleinere» Capos und Blockälteste konnte man zu ihm rechnen. Diese Schicht war sehr zahlreich. In Buchenwald zählte sie schon zu der Zeit, da der große Zustrom der Ausländer nicht eingesetzt hatte, 2000 bis 3000 Häftlinge auf etwa 10 000 Gesamtbelegschaft. Selbst in Auschwitz-Buna, wo keine nennenswerten Lagerwerkstätten existierten, konnte man sie auf rund 1000 bei 10 000 Gesamtstärke beziffern.

Diese Schicht hatte zwar bei weitem nicht so viel Macht und Ansehen wie die Prominenz, aber dafür auch viel weniger Verantwortung. Die materiellen Vorteile waren recht verschieden — Köche hatten natürlich stets genug zu essen, die Häftlinge der Bekleidungskammer waren gut gekleidet, dagegen hatten manche Vorarbeiter unmittelbar nur ganz geringe Vorteile gegenüber ihrem Kommando — aber trotzdem hob sich die Gruppe scharf von der großen Masse ab. Dies beruhte vor allem auf der Art der Arbeit. Entweder waren die Häftlinge in den Werkstätten — also unter Dach! — und in ihrem Beruf beschäftigt, oder sie hatten als Vorarbeiter keine körperliche Arbeit zu leisten, oder sie waren im Stubendienst und Revier, also auch unter Dach, bei einer selten kontrollierten Arbeit mit großen Pausen beschäftigt.

Hierfür kamen in den ersten Jahren die deutschen «Arier» in Betracht. Nach dem Einströmen der Ausländer errangen sich diese zahlreiche Positionen, in der letzten Periode, als sich die Unterschiede schon verwischten, auch die Juden, unter diesen aber nur die Spezialisten und die alten Häftlinge. Deutsche Sprachkenntnisse waren nicht unbedingt erforderlich, während dies bei der Prominenz mehr oder weniger an allen Stellen der Fall war.

Das Leben dieser mittleren Schicht war, an Lagerverhältnissen gemessen, behaglich zu nennen. Lieferte die Stellung nicht von selbst — wie in der Küche, im Revier oder im Stubendienst — mehr Essen, so boten Arbeiten für die SS, Beziehungen zu Eßquellen oder zu Zivilisten, Tausch- und Schiebemöglichkeiten aller Art Anlaß zur Beschaffung von «außertourlichen» Rationen. Die Arbeit war zeitweilig schwer — zum Beispiel die Krankenpfleger hatten häufig kein leichtes Leben und auch in manchen Werkstätten war viel zu tun — aber das wurde mehr als ausgeglichen dadurch, daß die SS diese Arbeiten nahezu niemals kontrollierte, auch nicht kontrollieren konnte, so daß der seelische Druck nicht allzu schwer auf dem Angehörigen dieser Schicht lastete.

Gerade diese geringe Kontrollmöglichkeit durch die SS verleitete viele «Mittelständler», ihre Pflichten gröblich zu vernachlässigen. Das blieb nicht ohne Rückwirkungen auf die Allgemeinheit. Abgesehen von den Fällen direkten Diebstahls an den Kameraden, also etwa des Verschiebens von Lebensmitteln aus der Küche oder von Wäsche aus der Bekleidungskammer, war es für die große Masse keineswegs gleichgültig, ob der Stubendienst den Block sauber hielt und alle Möglichkeiten, frische Wäsche oder Schuhe zu besorgen, wahrnahm, oder ob der Pfleger im Revier für die Kranken ordentlich sorgte; es war aber auch bedeutsam, wie viel Paar Schuhe die Kollegen in der Häftlingsschuhmacherei täglich reparierten und ob die Wäscherei den Bedürfnissen des Lagers nachkam.

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