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Intervention der Armee anlässlich der Julikrise: Helmuth J. L. von Moltke an Theobald von Bethmann Hollweg (29. Juli 1914)

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Man kann nicht leugnen, dass die Sache von seiten Russlands geschickt inszeniert ist. Unter fortwährenden Versicherungen, dass es noch nicht „mobil" sondern nur „für alle Fälle" Vorbereitungen treffe, dass es „bisher" keine Reservisten einberufen habe, macht es sich soweit kriegsbereit, dass es, wenn es die Mobilmachung wirklich ausspricht, in wenigen Tagen zum Vormarsch fertig sein kann. Damit bringt es Österreich in eine verzweifelte Lage und schiebt ihm die Verantwortung zu, indem es doch Österreich zwingt, sich gegen eine russische Überraschung zu sichern. Es wird sagen: Du Österreich machst gegen uns mobil, Du willst also den Krieg mit uns. Gegen Deutschland versichert Russland, nichts unternehmen zu wollen, es weiss aber ganz genau, dass Deutschland einem kriegerischen Zusammenstoss zwischen seinem Bundesgenossen und Russland nicht untätig zusehen kann. Auch Deutschland wird gezwungen werden, mobil zu machen, und wiederum wird Russland der Welt gegenüber sagen können: „Ich habe den Krieg nicht gewollt, aber Deutschland hat ihn herbeigeführt." So werden und müssen die Dinge sich entwickeln, wenn nicht, fast möchte man sagen, ein Wunder geschieht, um noch in letzter Stunde einen Krieg zu verhindern, der die Kultur fast des gesamten Europas auf Jahrzehnte hinaus vernichten wird.

Deutschland will diesen schrecklichen Krieg nicht herbeiführen. Die deutsche Regierung weiss aber, dass es die tiefgewurzelten Gefühle der Bundestreue, eines der schönsten Züge deutschen Gemütslebens, in verhängnisvoller Weise verletzen und sich in Widerspruch mit allen Empfindungen ihres Volkes setzen würde, wenn sie ihrem Bundesgenossen in einem Augenblick nicht zu Hilfe kommen wollte, der über dessen Existenz entscheiden muss.

Nach den vorliegenden Nachrichten scheint auch Frankreich vorbereitende Massnahmen für eine eventuelle spätere Mobilmachung zu treffen. Es ist augenscheinlich, dass Russland und Frankreich in ihren Massnahmen Hand in Hand gehen.

Deutschland wird also, wenn der Zusammenstoss zwischen Österreich und Russland unvermeidlich ist, mobil machen und bereit sein, den Kampf nach zwei Fronten aufzunehmen.

Für die eintretendenfalls von uns beabsichtigten militärischen Massnahmen ist es von grösster Wichtigkeit, möglichst bald Klarheit darüber zu erhalten, ob Russland und Frankreich gewillt sind, es auf einen Krieg mit Deutschland ankommen zu lassen. Je weiter die Vorbereitungen unserer Nachbarn fortschreiten, um so schneller werden sie ihre Mobilmachung beendigen können. Die militärische Lage wird dadurch für uns von Tag zu Tag ungünstiger und kann, wenn unsere voraussichtlichen Gegner sich weiter in aller Ruhe vorbereiten, zu verhängnisvollen Folgen für uns führen.



Quelle: Helmuth J. L. von Moltke an Theobald von Bethmann Hollweg (29. Juli 1914), in Walther Schücking und Max Montgelas, Hg., Die Deutschen Dokumente zum Kriegsausbruch. 5 Bände, Berlin, 1922, Bd. 5, S. 349.

Abgedruckt in Imanuel Geiss, Julikrise und Kriegsausbruch 1914. 2 Bände, Hannover, 1963-64, Bd. 2, S. 261-63.

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