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Sozialistischer „Revisionismus”: Die nächsten Aufgaben der Sozialdemokratie (1899)

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Was die Agrarfrage anbetrifft, so haben selbst diejenigen, die die bäuerliche Wirtschaft für den Untergang geweiht betrachten, ihre Anschauungen über das Zeitmaß der Vollziehung dieses Untergangs erheblich geändert. Bei den neueren Debatten über die von der Sozialdemokratie zu beobachtende Agrarpolitik haben zwar auch noch große Meinungsverschiedenheiten über diesen Punkt mitgespielt, aber prinzipiell drehten diese sich darum, ob und gegebenenfalls bis zu welcher Grenze die Sozialdemokratie dem Bauern als solchem, d. h. als selbständigem Unternehmer, gegen den Kapitalismus Beistand zu leisten habe. [ . . . ]

[ . . . ] Für mich lassen sich, [ . . . ] die Hauptaufgaben, welche die Sozialdemokratie heute gegenüber der Landbevölkerung zu erfüllen hat, in drei Gruppen zerlegen. Nämlich

1. Bekämpfung aller noch vorhandenen Reste und Stützen der Grundbesitzerfeudalität und Kampf für die Demokratie in der Gemeinde und dem Distrikt. Also Eintreten für Aufhebung der Fideikommisse, der Gutsbezirke, der Jagdprivilegien usw. [ . . . ]

2. Schutz und Entlastung der arbeitenden Klassen in der Landwirtschaft. Unter diese Rubrik fällt der Arbeiterschutz im engeren Sinne: Aufhebung der Gesindeordnung, Begrenzung der Arbeitszeit der verschiedenen Kategorien der Lohnarbeiter, Gesundheitspolizei, Unterrichtswesen, sowie solche Maßregeln, welche den Kleinbauern als Steuerzahler entlasten. [ . . . ]

3. Bekämpfung des Eigentumsabsolutismus und Förderung des Genossenschaftswesens. Hierunter fallen Forderungen wie „Einschränkung der Rechte des Privateigentums am Boden zur Förderung: 1) der Separation, der Aufhebung der Gemenglage, 2) der Landeskultur, 3) der Seuchenverhütung [ . . . ] Reduzierung übermäßiger Pachtzinsen durch dazu eingesetzte Gerichtshöfe [ . . . ] Bau gesunder und bequemer Arbeiterwohnungen durch die Gemeinden. Erleichterung des genossenschaftlichen Zusammenschlusses durch die Gesetzgebung [ . . . ] Berechtigung der Gemeinden, Boden durch Kauf oder Expropriation zu erwerben und an Arbeiter und Arbeitergenossenschaften zu billigem Zins zu verpachten."

Die letztere Forderung leitet zur Genossenschaftsfrage über. [ . . . ] Es handelt sich heute nicht mehr darum, ob Genossenschaften sein sollen oder nicht. Sie sind und werden sein, ob die Sozialdemokratie es will oder nicht. Zwar könnte oder kann sie durch das Gewicht ihres Einflusses auf die Arbeiterklasse die Ausbreitung der Arbeitergenossenschaften verlangsamen, aber dadurch würde sie weder sich noch der Arbeiterklasse einen Dienst leisten. Ebenso wenig empfiehlt sich das spröde Manchestertum, das vielfach in der Partei gegenüber der Genossenschaftsbewegung an den Tag gelegt und mit der Erklärung begründet wird, es könne innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft keine sozialistischen Genossenschaften geben. Es gilt vielmehr bestimmte Stellung zu nehmen und sich klar zu werden, welche Genossenschaften die Sozialdemokratie empfehlen und nach Maßgabe ihrer Mittel moralisch unterstützen kann und welche nicht. [ . . . ]

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