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Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft (1887). Vorrede zur 2. Auflage (1912)

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So ist auch die gebotene Position der sozialistischen Theorie zu den Problemen der Kultur. Eine sozialistische Theorie heißt hier nicht: eine Theorie, die bestimmte Werturteile (über Kapitalismus, Privateigentum, Proletariat) fällt, eine bestimmte Politik oder gar eine ganze Gesellschaftsordnung postuliert, sondern gemeint ist nur eine Theorie, die nicht die eingewickelten und als selbstverständlich geltenden Werturteile des Liberalismus und also der vorherrschenden sozialphilosophischen Ansicht, ohne weiteres gelten läßt, sondern sich außerhalb des Gegensatzes und über den Gegensatz stellt, worin diese Ansicht naiv verharrt.

Die Theorie stellt sich kritisch, d. h. in erster Linie erkennend, betrachtend, beobachtend, theoretisch zu den Dingen und ihrer Entwicklung.

Hier liegt die bleibende Bedeutung der 'Kritik der politischen Oekonomie' — denn die politische Oekonomie in ihrer klassischen Gestalt, die auch in historisch-ethischen Modifikationen sich erhält, meinte allerdings die normale soziale Verfassung darzustellen und herzustellen: auf Grund der persönlichen Freiheit und Gleichheit der Individuen, auf Grund der erworbenen Rechte, also der unbegrenzten Ungleichheit des Vermögens, auf Grund der Scheidung der Gesellschaft in die Klasse der Eigentümer und die Klasse des Proletariates.

Dieser Voraussetzung gegenüber sind die Erkenntnisse von fundamentaler Wichtigkeit: 1. daß die große Gesamtmasse der bisherigen Kultur ohne diese angeblich normalen Zustände, wie ohne Eisenbahnen, Telegraphen und Selfaktors bestanden und geblüht hat; daß vielmehr irgendwelches Gemeineigentum des Volkes, wenigstens am Grund und Boden; daß ferner das private Eigentum der industriellen Arbeiter an ihren Produktionsmitteln durchaus historische Regel gewesen sind und in weiter Ausdehnung noch sind; 2. daß auch „die jetzige Gesellschaft kein fester Kristall, sondern ein umwandlungsfähiger und beständig im Prozeß der Umwandlung begriffener Organismus ist". (K. Marx. Das Kapital, Vorrede zur ersten Auflage, 25. Juli 1867.)

Ferner aber ist die Einsicht ein notwendiges Element des 'wissenschaftlichen Sozialismus', daß nicht in erster Linie politische Verhältnisse, noch weniger geistige Strömungen — wissenschaftliche, künstlerische, ethische — die treibenden Faktoren der sozialen Bewegungen sind, so stark sie auch dazu mitwirken; sondern die groben materiellen Bedürfnisse, Empfindungen und Gefühle des wirtschaftlichen 'täglichen' Lebens, die sich je nach den sozialen Lebensbedingungen, also in verschiedenen Schichten oder Klassen verschieden gestalten; daß diese relativ unabhängige Variable auch auf die politischen Verhältnisse und die geistigen Strömungen bestimmend einwirkt, durch deren Rückwirkungen sie selber fortwährend gefördert, aber auch gehemmt, immer in bedeutsamer Weise modifiziert wird.

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