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Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft (1887). Vorrede zur 2. Auflage (1912)

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Unter den Männern, die so ein neues sozial-politisches Bewußtsein schufen, standen in vorderster Reihe Gelehrte wie: Schmoller, Brentano, Knapp, jeder in verschiedenem Sinne wirkend. Den Anspruch prinzipieller Strenge und systematischer Verallgemeinerungen für den großen Gegensatz: Sozialismus gegen Kapitalismus (oder Individualismus) machten mit bedeutenden Erfolgen Adolf Wagner und Albert Schäffle geltend: Wagner, der in seiner 'Grundlegung' unter dem Einflusse eines echten Sozialisten (Robbertus) das Plädoyer für die Ausdehnung der Staatstätigkeit, für die Legaltheorie in Bezug auf alles Privateigentum, für die Rechte der volkswirtschaftlichen gegen die privatwirtschaftlichen Begriffe entfaltete; Schäffle, der in verwandtem Geiste, aber mit noch stärkeren philosophischen Ansprüchen, Bau und Leben des sozialen Körpers zu beschreiben unternahm; mit Herbert Spencer in der 'organistischen' Auffassung der Soziologie sich berührend (in der Tat stark von ihm angeregt), aber während dieser zum Postulat des administrativen Nihilismus gelangte, seinerseits eher den administrativen Universalismus befürwortend. Beide aber sehen die Entwicklungen der Kultur im Lichte der Entwicklung des Lebens, also der Descendenztheorie, ziehen Folgerungen, die, so unwiderlegbar sie in ihren Elementen sein mögen, bald auf das glatte Eis der Mutmaßung zwischen Furcht und Hoffnung geraten. Dagegen hatte August Comte die Soziologie in dem Sinne zu positivieren und also zu begründen gemeint, daß er durch die definitive und richtige Theorie die definitive und richtige Gestaltung des sozialen Lebens und der Politik einleiten wollte; auch gemäß einem Gesetze der Entwicklung, aber der Entwicklung des menschlichen Denkens allein, dem Gesetze der drei Stadien. Eine gewisse Beziehung zur Hegelischen Dialektik ist darin unverkennbar gegeben, und die Idee einer schöpferischen Synthese in den praktischen Richtungen charakterisiert die progressiven Gedankentendenzen des 19. Jahrhunderts überhaupt.

Die Ansicht einer Entwicklung der Kultur aus Barbarei und Wildheit, also der Menschen aus tierähnlichen Zuständen, war schon seit dem 17. Jahrhundert die Ansicht aller aufgeklärten Denker, anstatt des Glaubens an die paradiesischen Ursprünge und Herrlichkeiten. Sie war durch die Restauration und Romantik verdunkelt und mußte vom Darwinismus aus neu gewonnen werden; aber ihrem Wesen nach ist sie viel weniger Anwendung einer biologischen Entwicklungslehre, als diese Verallgemeinerung jener ist. Bei Hegel, wie bei Comte liegt diese wesentliche Unabhängigkeit noch deutlich zu Tage.

Was Comte auszeichnet ist dies, daß er unter dem mächtigen Einflusse Saint-Simons, eine kritische Stellung zum Fortschritt, zur Neuzeit, zum Liberalismus, einnimmt. Das taten die Romantiker auch, die Vertreter des Herkommens, des Mittelalters, der Autoritäten. Aber Saint-Simon und Comte nehmen diese Stellung ein auf dem Boden des Fortschrittes selber, auf dem Boden der Neuzeit und des Liberalismus. Ohne zur Gläubigkeit und zum Feudalismus zurückkehren zu wollen, erkennen sie doch das Vorwalten einer positiven und organischen Ordnung im Mittelalter, erkennen ebenso den wesentlich negativen und revolutionären Charakter der Neuzeit, ohne doch Wissenschaft, Aufklärung, Freiheit zu verleugnen; im Gegenteil, diese nur um so stärker bejahend und betonend.

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