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Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft (1887). Vorrede zur 2. Auflage (1912)

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Die moderne Philosophie ist mit und an der Naturwissenschaft erwachsen. Vor 200 Jahren herrschte noch an allen Universitäten Europas die aristotelisch-scholastische Naturphilosophie und die dazu gehörige moralische Theologie, theologische Rechtsphilosophie und Soziallehre. Das 18. Jahrhundert brachte wenigstens im protestantischen Deutschland, die Revolution in Frankreich die Modernisierung: die Hochschulen folgten der bürgerlichen Bewegung und ihrem politischen Fortschritt.

Auch die an der mechanistischen Naturerkenntnis sich emporrankende Philosophie hatte eine Rechtsphilosophie und eine Sozialtheorie, ja diese waren für sie die Hauptstücke der Ethik. Und die Tendenz dieser 'praktischen' Philosophie war notwendig antitheologisch, antifeudal, antimittelalterlich, sie war individualistisch und darum (nach meinen Begriffen) gesellschaftlich.

Ihre großen historisch epochemachenden Leistungen sind das (rationalistische und spezifisch so genannte) Naturrecht und die mit ihm innerlich tief zusammenhängende (wie W. Hasbach eingehend nachgewiesen hat) physiokratische, in der 'klassischen' englischen Schule sich fortsetzende 'politische Ökonomie'. Ich hatte in meiner Vorrede zur 1. Ausgabe dieser Schrift jenes der Geometrie, diese der abstrakten Mechanik verglichen.

Naturrecht und politische Ökonomie wirkten mächtig mit zur Gestaltung der sich entwickelnden und sich entfesselnden modernen Gesellschaft, wie des ebenso sich entwickelnden und sich entfesselnden modernen Staates. Beide Entwicklungen geschahen unter dem Zeichen der Revolution — die große französische Revolution, die auch das heilige römische Reich vernichtete, und die kleinen Revolutionen, die in Frankreich und in Deutschland — hier zum Teil durch die Aktion der in Ursprung und Energie revolutionären preußischen Monarchie — während des 19. Jahrhunderts sich anschlossen; diese Revolutionen gaben dem Kapital wie der Gesetzgebung, die zunächst wesentlich zu dessen Förderung sich entfaltete, die gewaltigen Impulse.

Alle Revolutionen aber lösen mächtige Gegenbewegungen aus. Die Restaurationen und reaktionären Tendenzen folgen mit deutlicher Notwendigkeit ihren Erschütterungen.

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