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Julius Langbehn, Rembrandt als Erzieher (1890)

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Historische Ideale.
Jede Individualität fügt sich aus einer Anzahl von Eigenschaften zusammen; die Art dieser Eigenschaften und ihre, unter irgend einem Neigungswinkel erfolgte Gruppierung zueinander bilden eben die Individualität. Wenn man eine vergleichende Übersicht sämtlicher unveränderlicher Eigenschaften eines Volkes als einen Querdurchschnitt seines Charakters bezeichnen kann, so darf der zusammenfassende Überblick über die Schar der Männer, welche diese genannten Eigenschaften im Laufe der Geschichte hervorragend entwickelt und veranschaulicht haben, als ein Längsdurchschnit eben dieser Volksindividualität angesehen werden. Jener Querschnitt ist von abstrakter, dieser Längsschnitt von praktischer Art er stellt, bildlich gesprochen, den Ahnensaal des betreffenden Volksgeistes dar; jede Eigenschaft des letzteren findet hier einen Haupt- vertreter oder deren mehrere; die Tugenden wie Fehler eines Volk werden im Laufe der Geschichte zu Menschen. So auch bei den Deutschen. „Die Deutschen sind ehrliche Leute," sagte schon Schakespeare: Luthers wie Bismarcks Vorzüge beruhen darauf; die Deutschen gelten von alters her für tapfer: Winkelried und Friedrich der Große beweisen es; ebenso ist ihr Denken in Leibniz und Kant, ihr Dichten in Walther von der Vogelweide und Goethe, ihr Singen in Bach und Mozart verkörpert. Andere Züge des Volkscharakters haben sich in andere Männer konzentriert; alle zusammen endlich ergeben die geistige Volksphysiognomie; und diese muß man befragen, wenn man über die Aufgaben und vorher bestimmten Schicksale eines Volks Auskunft haben will. Selbstverständlich wird die Antwort je nach den Zeiten und Umständen, unter denen sie erfolgt, eine verschiedene sein; selbstverständlich wird bald die eine bald die andere Eigenschaft als die führende zu gelten haben; aber immer wird es der Blick in die Vergangenheit, in die von handelnden Männern erfüllte Vergangenheit sein, welcher als Norm für die Zukunft dienen kann. Ein Volk wird für eine gesunde Zukunft erzogen durch seine beste Vergangenheit; und die Gegenwart soll das richtige Verhältnis zwischen beiden er- und vermitteln. Auf dieser Wage wägt man ein Volk.

Es ist sicher: Deutschland kann seine Ideale nicht aufgeben, ohne sich selbst aufzugeben. Die historisierende und naturwissenschaftliche Richtung unserer gegenwärtigen Zeit steht dem an sich keineswegs entgegen; denn es hieße sehr oberflächlich urteilen, wenn man annehmen wollte, daß eine auf Wirklichkeit gegründete Weltanschauung des tieferen idealen Gehalts entbehren könne oder müsse. Die Bildung selbst schreitet niemals rückwärts; sie setzt wie der Baum stets neue Ringe an, welche die alten in sich einschließen: das nennt man Wachstum. Demgemäß haben die heutigen Deutschen, deren Großväter eine ideale und deren Väter eine historische Bildung besaßen, aus den Bildungsergebnissen der beiden vorhergehenden Generationen die Summe zu ziehen, indem sie sich — historische Ideale erwählen. Es sind dies Heroen des Geistes, Ahnen des Volks, Vertreter derjenigen seiner Charaktereigenschaften, welche in der gegenwärtigen und zunächst kommenden Zeit bestimmt sind, an die Oberfläche der Geschichte zu treten. „Es gibt nur ein Glück und das ist, sich selbst zu reformieren und klug genug zu sein, um völlig edel zu sein," sagt der vielfach unterschätzte Grabbe; und zu solchem Glück können jene Geister dem Deutschen verhelfen. Sie sind Spiegelbilder seines eigenen schönsten Daseins; an ihnen vermag das Volk seine Leistungen und seine Kräfte und seine Ziele zu messen; in ihnen ehrt es sich selbst. Sie dienen als Kristallisationspunkte für die jeweilige Geistesentwickelung des Volks; sie bilden die hohe Schule, auf welcher es sich für seine künftigen Geschicke vorzubereiten hat; kurz, sie sind die Erzieher ihres Volkes.

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