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Julius Langbehn, Rembrandt als Erzieher (1890)

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Die Erziehung zu einem und in einem maßvollen Individualismus erweist sich mithin als die nächste Aufgabe des deutschen Volkes auf geistigem Gebiet. Diese neue und doch so alte Geistesrichtung steht dem heute herrschenden wissenschaftlichen Spezialismus ebenso fern, wie dem vor hundert Jahren herrschenden abstrakten Idealismus. Lessing und Schiller schrieben über die Erziehung des Menschengeschlechts; Goethe lebte selbst als Mensch schlechthin; aber nicht diesen letzteren, sondern den deutschen Menschen gilt es heutzutage zu erziehen und zu erzielen. Bei manchem Verlust ist es doch als ein bleibender Gewinn der jetzigen wissenschaftlichen wie politischen deutschen Geistesentwickelung zu bezeichnen, daß sie sich mehr und mehr von leeren Abstraktionen entfernt hat; damit ist zwar noch nicht das Rechte, aber doch der Weg zum Rechten gewonnen: „Humanität, Nationalität, Stammeseigentümlichkeit, Familiencharakter, Individualität sind eine Pyramide, deren Spitze näher an den Himmel reicht, als ihre Basis," sagt Paul de Lagarde. Dieser große und weittragende, dieser echt- und urdeutsche Grundsatz ist nach seinem vollen Werte kaum zu würdigen. Nachdem das Pendel der nationalen Bildung vom Idealismus zunächst zum Spezialismus übergeschlagen ist, muß es nunmehr zwischen diesen beiden Ertremen, bei einem gesunden Individualismus, stehenbleiben. Goethe hat bereits diese dreifache deutsche Bildungsskala nach ihrem richtigen Werte unterschieden und aufs bestimmteste formuliert: „Wir wollen indes hoffen und erwarten, wie es etwa in einem Jahrhundert mit uns Deutschen aussieht, und ob wir es sodann dahin werden gebracht haben, nicht mehr abstrakte Gelehrte und Philosophen, sondern Menschen zu sein." Dem Menschen ist der Barbar entgegengesetzt, und das Wesen des Barbaren ist Maßlosigkeit, nach der einen oder nach der andern Seite. Das transzendente Denken der Deutschen von einst teilt daher gewisse Fehler mit dem materiellen Denken der Deutschen von heute; jenes hält sich ebenso weit über, wie dieses unter der Natur; es gibt also einen Punkt, wo sich Kant und Büchner treffen.

Wer ein rechter Deutscher ist, der ist auch ein rechter Mensch; keineswegs umgekehrt; eben hierauf beruht der Vorzug des Deutschtums, welches durch das letzte Jahrhundert, vor dem Menschentum, welches durch das vorletzte Jahrhundert angestrebt wurde. Das Geheimnis besteht darin, sich an seine Individualität zu binden, aber sich nicht von ihr binden zu lassen. Der Deutsche wird sich gewissermaßen selbst widersprechen müssen, um seinem höheren Beruf gerecht zu werden; er wird seine Individualität — das anscheinend Freie und Gesetzlose — zum Gesetz erheben müssen; er wird sich selbst zu konstruieren haben. Denn das Individuelle wirkt erst dann nützlich, wenn es der rein persönlichen Willkür entrückt ist; wenn es sich dem großen Bau eines Volks- und Weltlebens einfügt; wenn es dient. Der Deutsche soll dem Deutschtum dienen.

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Organisation vermehrt, Desorganisation verzehrt. Es wäre daher zu wünschen, daß die Herrschaft der Mittelmäßigkeiten in Deutschland aufhöre; und daß diese sich dem wahrhaft Großen wieder unterordnen mögen, daß sie bescheiden werden; daß sie sich erziehen lassen. Der erste Schritt hierzu ist Selbsterkenntnis; wer wenig Persönlichkeit besitzt, ist nur der Bruchteil eines Menschen, nicht ein Mensch; wer keine Persönlichkeit besitzt oder bewährt, ist eine Null Und „alle Nullen der Welt sind, was ihren Gehalt und Wert anlangt, gleich einer einzigen Null", hat Leonardo erklärt; dies gilt selbstverständlich auch von den vielen Nullen im heutigen Deutschland. Würde ihnen der große Einer des echten Individualismus vorgesetzt, so würde sich das geistige Nationalvermögen der Deutschen ganz überraschend vermehren. Er kann ihnen nur vorgesetzt werden dadurch, daß einzelne geistige Individualitäten — sei es aus der Vergangenheit oder Gegenwart — wieder führend an ihre Spitze treten.

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