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Paul Schultze-Naumburg und Häusliche Kunstpflege (1900)

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Überall haben wir es mit gänzlich veränderten Bedingungen zu thun. Erst wenn diese in ihrer vollen Konsequenz von der Kunst in Betracht gezogen werden, kann sie auf dem Wege wirklicher Gesundheit sein. Nirgends aber auf ihrem Gebiet sind diese veränderten Bedingungen auch nur von annähernd solcher Bedeutung, wie auf dem der angewandten und dekorativen Kunst.

Bis zu den Ausklagen des Empire, dem Biedermeierstil, ging alles seinen folgerichtigen, normalen Gang gesunder Entwicklung. Bis dahin befand sich ästhetisches Empfinden mit den Forderungen und dem technischen Stande der Zeit in Harmonie. Die seltsame Verwirrung, die der Anbruch einer neuen Zeit mit sich brachte, brachte auch Wirrsal in den Stil. Die traurigen Denkmäler dieses Interregnums der Stillosigkeit werden noch Jahrhunderte lang als Dokumente für das Kunstempfinden des Jahrhunderts der grossen Erfindungen dastehen. Die Periode der bewussten historischen Stilhetze musste aber doch schliesslich als ein beklagenswerter Irrtum erkannt werden. Zuerst in England, dann überall erwachte nun die Erkenntnis, dass man sich an der menschlichen Schöpferkraft schwer versündigt, und wir erleben jetzt den grossen Moment der Geburtsstunde des Stils des zwanzigsten Jahrhunderts.

Aber man kann nur da ansetzen, wo die Entwicklung unterbrochen war, deshalb klingt zunächst noch unsere modernste Kunst an die des Empires an und sucht diese auf die veränderten Bedingungen, auf die Resultate unseres immensen Fortschritts auf wissenschaftlichem Gebiete überzuführen.

So schlecht war ja das Wohnhaus, wie es sich zu Anfang dieses Jahrhunderts zeigte, nicht. Es war Gold gegen das, was unsere fortgeschrittene Zeit später bot. Fehlte noch viel in hygienischer Beziehung, war vieles oft noch gar zu primitiv, so treffen wir in wohlerhaltenen Gebäuden jener Zeit, den einfachen Patrizierhäusern der Stadt und den im Gartenhausstil angelegten des Landes, auf breite behaglich ansteigende Treppen, grosse Korridore, wenig verhängte helle Fenster, auf „Platzverschwendung“ überall. Im schroffsten Gegensatz zu unserem imitierten Luxus sehen wir eine ganz unglaublich solide Einfachheit, Möbel wie für Jahrhunderte gebaut, Geräte vor allem zweckmässig, alles Unnütze vermeidend und im ganzen Arrangement eine für heutige Begriffe oft ans Ärmliche grenzende, aber in ihrer Echtheit und Übersichtlichkeit doch wohlthuende Einfachheit.

Heut sind alle Vorbedingungen gänzlich verändert. Mit der Platzverschwendung ist es ein für allemal aus; den dadurch notleidenden hygienischen Bedürfnissen wird überall, wo die Sparsamkeit zur Einschränkung zwingt, durch den hohen Stand der Technik ausgeholfen.

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