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Otto Brahm, „Die Freie Volksbühne” (1890)

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Und mit der gleichen Einmütigkeit, mit der die positiven Ziele der Volksbühne umschrieben wurden, verhielt man sich kritisch gegen die bestehenden Theater, gegen die Luxusbühnen, deren Beherrscher nur dieses eine ist: das Geld. Nicht bloß aus dem Gesichtswinkel des Sozialismus, welcher Theaterunternehmungen, so gut wie die anderen kapitalistischen Betriebe, perhorresziert, auch aus rein künstlerischen Gründen kann man den Ausführungen der Herren Wille und Genossen zustimmen, die die Oberherrschaft der Kasse mit all ihren Folgen darstellten: rücksichtsloses Exploitieren des Erfolges, Versinken ins Banale, Kultus des Äußerlichen. Die Geschäftstheater von heute sind mit Notwendigkeit, wie sie sind, das erkennt jeder; aber die Versuche, die von hier und von dort, bald von literarischen Erwägungen aus, wie in unserer Freien Bühne, bald von sozialen Erwägungen aus, wie in der Freien Volksbühne, gemacht werden, zeigen deutlich das allgemeine Bedürfnis nach Reformen, das sich, so oder so, zu Taten umsetzen wird.

Dieses Bedürfnis ist ein dringendes für uns, erklärte Dr. Wille, seine Erfüllung kann auf die allgemeine politische und wirtschaftliche Entwickelung nicht warten: »Da wir Menschen sind mit Bedürfnissen in der Gegenwart, so müssen wir für die Gegenwart sorgen.« Und dies war das Bedeutsame in der Versammlung: daß mit einer Entschiedenheit, welche kein Zweifel störte, die künstlerischen Bedürfnisse des Volkes anerkannt wurden. Ganz vereinzelt stand ein Redner da, der – ohne der Sache selbst feind zu sein – sie mit unklaren Vorstellungen auf die lange Bank schieben wollte; und mit heiterer Einmütigkeit ward er abgelehnt. Niemand aber trat auf, der gesagt hätte: Wir brauchen diese Bühne nicht; was soll uns das Theater – helft erst die näheren Sorgen bannen, die Proletarier haben nichts übrig für den Luxus der Kunst! Sondern die »geistige Begehrlichkeit« bezeugte sich laut, und wenn auch die begabtesten nur unter den Arbeitern Berlins an diesem Verlangen teilhaben mögen – die Versammlung bleibt doch ein überzeugender Beweis für den Drang des Volkes nach geistigem und künstlerischem Genießen. Ein Zug von Idealismus, im besten Wortsinn, ging durch die Hörer, trotz der realistischen Akzente, die der Spielplan aufwies. Und weil es zum ersten Male geschieht, daß in weithin leuchtender Einhelligkeit breite Massen des Volkes nach der Kunst rufen, und daß eine ganze große Partei dies Verlangen stützt, darum erscheint mir dieses Unternehmen als ein kulturhistorisch bedeutsames, und wem politische Scheuklappen nicht den Blick einengen, muß seine ferntragende Mission erkennen.

Nicht vom Standpunkte einer Partei begrüße ich also den Plan freudig (denn ich gehöre keiner an und bin, politisch und ästhetisch, ein geborener Wilder); sondern ich erkenne in einer Freien Volksbühne – nicht in einem »sozialdemokratischen Theater« – ein Unternehmen von der allgemeinsten künstlerischen und sozialen Bedeutung, und meine besten Wünsche begleiten ihr Werden.



Quelle: Otto Brahm, „Die freie Volksbühne“, Freie Bühne für Modernes Leben, Jg. 1, Nr. 27 (6. August 1890), S. 713-15.

Abgedruckt in Jürgen Schutte und Peter Sprengel, Die Berliner Moderne 1885-1914. Stuttgart, 1987, S. 408-13.

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