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Eine Generalversammlung deutscher Israeliten (1893)

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Die Leidensgeschichte unseres Stammes und unseres Glaubens ist uralt und sie bleibt sich stets gleich; die Formen jedoch, unter denen sie in die Erscheinung tritt, wechseln je nach den allgemeinen Kulturzuständen der Völker. Man kann sagen, jedes Jahrhundert gebiert eine andere Form von Judenhetze, und es gehört fürwahr ein unzerstörbarer Glaube an die unüberwindliche Macht der sittlichen Entwickelungsfähigkeit im Menschen dazu, um nicht schließlich zu verzweifeln. Dieser Glaube hat uns Israeliten aufrecht erhalten mitten in den schwersten Stürmen, die über uns im Laufe der Jahrtausende hereingebrochen sind, und dieser Glaube an den sittlichen Fortschritt des gesammten Menschengeschlechtes, dieses wahrhaft unveräußerliche Erbtheil unseres Stammes, wird uns auch die Noth der schweren Zeit, in welcher wir leben, ganz sicherlich überwinden helfen. Es wäre unserer ruhmreichen, freilich auch unserer thränenreichen Geschichte unwürdig, kleinmüthig zu verzagen. Israels Wege sind nun einmal thränenschwer. Aber unser Trost liegt in der Geschichte unserer Entwickelung, in der Gewißheit, daß wir schon mit ganz anderen Gewalten fertig geworden sind, als mit dem zusammengelesenen Gelichter, moderner Judenhetzer. Auch für uns ist das Wort geschrieben: „Und die Pforten der Hölle, das heißt der Bösen, werden dich, Israel, nicht überwinden!“

Der Anblick, den die Gegenwart für uns darbietet, ist freilich ein sehr schmerzlicher und gar empfindlich sind die Kränkungen, denen unsere Glaubensgemeinschaft dermalen in Deutschland ausgesetzt ist, um so empfindlicher, je gesteigerter im Allgemeinen unser Ehrgefühl, unser Bewußtsein der Zugehörigkeit zu der Gesammtkultur des Zeitalters entwickelt ist. Von den Tagen Moses Mendelssohns und Gotthold Ephraim Lessings an bis auf unsere Zeit haben die deutschen Israeliten das Streben gezeigt, in immer stärkerem Maße Theil zu nehmen an der Entwickelung deutschen Geisteslebens. Wie nirgendwo anders auf Erden hat gerade in Deutschland solch eine befruchtende Wechselwirkung stattgefunden. Es ist kein Zufall. daß die Wiedergeburt der Wissenschaft vom Judenthum sich in Deutschland vollzogen hat. Die kritische Methode des deutschen Geistes, sie hat wie ein zündender Funke eingeschlagen in die jüdischen Köpfe und sie hat es bewirkt, daß die moderne Wissenschaft vom Judenthum auf die Wurzeln der deutschen Kritik im Allgemeinen zurückgeführt werden muß. Andererseits ist es ebenso wenig ein bloßer Zufall, daß gerade in denjenigen Gebieten menschlichen Schaffens, in denen sich das deutsche Gemüth am Edelsten entfaltete, nämlich in der dichterischen und in der musikalischen [unlesbar im Original] gleichfalls so hervorragende Leistungen aufzuweisen [unlesbar im Original]. Es hatte eben eine innigste Durchdringung dieser beiden von Haus aus gemüthsverwandten Elemente stattgefunden. Der den deutschen Israeliten innewohnende Geist schien gleichsam nur der Erlösung aus dem Banne zu harren, um sich sofort mit dem ihm verwandten deutschen zu verbinden, sich mit ihm zu durchdringen. Es giebt kein zweites Beispiel in unserer ganzen Geschichte; auch in Spanien nicht. Eine geistige Durchdringung der beiden Elemente, wie in Deutschland seit beinahe anderthalb hundert Jahren, hat dort nicht stattgefunden. Es würde natürlich den Rahmen eines Zeitungsartikels weit überschreiten, wollte man diesen Gedanken ins Einzelne durchführen. Die Andeutung mag daher genügen. Trotz alles Lärmens einer großen Zahl antisemitischer Tageshelden ist und bleibt es eine unbestreitbare völkerpsychologische Wahrheit, daß deutsche und jüdische Denk- und Empfindungsweise in tiefstem Grunde einander verwandt sind. Wer weiß, ob nicht gerade in dieser Menge von Berührungspunkten der wahre Grund der Abneigung gefunden werden mag. Vielleicht gilt das Gesetz von der Abstoßung gleichnamiger Pole auch in der moralischen Welt.

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